Die Könige der Parzelle

■ Seit über 150 Jahren flüchten die Berliner nach »Klein Afrika« oder »Gemütlichkeit«

Wenn man sich Berlin nähert, bietet sich dem Auge ein einzigartiges Bild, dem ich außerhalb Deutschlands noch nie begegnet bin. Man stelle sich weite, in lauter Rechtecke von 20 Metern Länge und 10 bis 15 Metern Breite eingeteilte Flächen vor; Holzzäune oder einfache Drähte trennen die Abteilungen voneinander, auf deren jeder sich rohgezimmerte Bretterbuden erheben, deren Dach eine Fahne überragt... Das nennen die Berliner: Die Lauben.«

Was den französischen Journalisten Jules Huret um die Jahrhundertwende bei seiner Deutschlandreise so beeindruckte, hatte bereits damals in Berlin Tradition: Bereits 1833 wurden in Berlin in Zeiten zunehmender Industrialisierung und Verarmung die ersten »Armengärten« angelegt — Gärten, in denen überwiegend Weber, Arbeiter und Handwerker Kartoffeln und Gemüse anbauen konnten und so die städtische Armenkasse entlasteten. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts steckten Obdachlose zahlreiche kleine Gärten rund um das Kottbusser Tor ab und richteten sich dort mehr schlecht als recht ein; auch in Treptow, Schöneberg und im Grunewald schossen Parzellen wie Pilze aus dem Boden — 40.000 sollen es um die Jahrhundertwende gewesen sein.

»Klein-Afrika«, »Märchenland«, »Lange Gurke« oder »Gemütlichkeit« heißen die Berliner Kleingartenkolonien heute. Obdachlose kommen dort nicht mehr unter, schon allein, weil das Wohnen in den Kolonien untersagt ist. »Erholungsgärten mit Fruchtziehung« heißen die Gärten offiziell — ein Wochenendvergnügen für Mietskasernenmüde. Immer mehr Menschen, gerade in West-Berlin, zog es nach dem Mauerbau hin zu einem Stück eigenen Land — Kurzurlaub in der eingeschlossenen Stadt. Und auch nach dem Mauerfall beträgt die Wartezeit auf eine Parzelle mindestens ein bis zwei Jahre.

Den Verteilungskämpfen um Berliner Land sehen die Kleingärtner gut organisiert und weitgehend gelassen entgegen. Mit 90.000 Mitgliedern im Rücken macht sich der »Landesverband Berlin der Gartenfreunde« inzwischen für Kleingärtnerinteressen stark. Auch innerhalb der Kolonien wird, den anmutigen Namen zum Trotz, fleißig organisiert. In der Kleingartenanlage »Treptows Ruh« sollen laut Anschlag am Schwarzen Brett jetzt »unordentliche und unsaubere Gärten« aufgespürt werden. Und: »Überhöhte Hecken innerhalb der Kleingartenanlage sind zu reduzieren«.

Wo früher die Armen ihren Lebensunterhalt zusammenklaubten, waltet heute der deutsche Hobbygärtner — jeden Alters und aus allen Schichten. Auch die ersten solventen links-alternativen Wohnungseigentümer tummeln sich inzwischen am Wochenende auf ihrem Land — mit Birkenstock-Schuhen und Vollwertkost. So manch einem Nachbar paßt das allerdings nicht. Karl E., Marke Zwei-Streifen-Jogginganzug und Badelatschen, schüttelt den Kopf über den neuen Typ Kleingärtner. »Also, was so ein echter Schreber ist, der muß auch ne kräftige Bulette essen«, meint er, nimmt einen kräftigen Schluck aus der Kindl-Dose, »und nicht nur so ein Grünzeug. Karl E., Mieter einer Zweizimmerwohnung und im »normalen« Leben Schlosser, ist in seiner Parzelle König und genau das, was man sich gemeinhin unter einem Schreber vorstellt. Hockt im Garten zwischen Gartenzwergen, Vogeltränke, Hundehütte und guckt, was die Nachbarn so treiben. Schade nur, daß wochentags außer ihm kaum jemand kommt. »Aber am Wochenende, Sie müßten mal sehen, was sich hier für ein Volk rumtreibt«, zischt er. Vor allem der, »der hier immer mit so 'ner Frau ankommt, die nicht seine ist«, hat es ihm angetan. »Wenn das mal rauskommt.« Aber eigentlich ginge ihn das ja nichts an, solange sich die Leute an die Regeln hielten. Denn auch die wollen strikt eingehalten werden. Wenn um 20 Uhr Feierabendruhe angesagt ist, marschieren die Aufseher durch die Anlagen und sehen nach dem Rechten. »Wir empfehlen jedem, die Polizei zu rufen, wenn es Ärger mit Nachbarn gibt«, erzählt Dietrich Knüppel, Bezirsvorsitzender der Gartenfreunde in Steglitz. »Aber eigentlich halten Kleingärtner prima zusammen.«

Außer der Sehnsucht nach einem Stück eigenen Land inmitten von Mietskasernen und Großstadthektik verbindet sie augenscheinlich noch eins: Tierliebe in allen Variationen. Chow-Chows aus Plastik, Gänse als Schwimmreifen, Pudel als Blumenkübel oder Rehe als Salzstreuer. Nicht zu vergesen die unvermeidlichen, kleinen selbstlosen Helfer mit Karren und Spaten, die seit der Goethezeit ihre Vorherrschaft in deutschen Gärten verteidigen: die Gartenzwerge. Jeannette Goddar