: KNIE WIE MARSHMALLOWS
■ Hansapark Sierksdorf: eine Feldstudie
Hansapark Sierkdsorf:
Eine Feldstudie
VONFRANZLERCHENMÜLLER
Im Himmel über Sierksdorf mancherlei seltsames Getier. Ein riesiger blauer Greif mit ausgestreckten Krallen schwebt durch die Luft, eine Schlange saust zischend in die Höhe, und ein weißer Fisch schlägt Saltos, immer wieder Saltos. Kenner wissen natürlich sofort: Aha. Der Sturmvogel. Nessie, nicht wahr. Der fliegende Hai, was denn sonst.
Ein Tag im Hansapark. Objektive Begutachtung eines Vergnügungsparks. Erstellung einer Feld- und Bewegungsstudie.
Kenner wissen: Von oben ist die Orientierung stets am einfachsten. Auch die Planer des Hansaparks haben daran gedacht und den hundert Meter hohen Holstein-Turm gleich rechts neben den Eingang gestellt. Platz genommen also auf den giftgelben Plastikbänken der Drehkabine, die mit ihrer Rundumverglasung an eine Raumfähre erinnert und sanft steigend, sanft drehend nach oben gleitet. Vor den Betrachtern wechselt die blaue Ostsee mit ein paar Wiesen, die jetzt grün und im Frühsommer, wenn der Raps blüht, knallgelb sind. Unter der Kabine eine Ansammlung von Kuppeln, Gerüsten, von Teichen, Blumenbeeten und Gebäuden: der Park. dreißig Hektar Vergnügen. Die beiden Damen, die die Siebzig zweifellos überschritten haben und sich energisch einhaken, als die Kabine hochrotiert, sind begeistert: „Kiek emol do! Do iss er, der Looping.“ Ja, do iss er.
Im Zentrum des Hansaparks liegt der alte Jahrmarkt. Leierkastenmusik tönt aus einem Dampfkarussell, auf dessen Schweinen und Schwänen Kinder strahlen. Die Ordner tragen buntgesprenkelte Fliegen zu ihren weißen Hemden, Luftgewehrkugeln klacken auf die blecherne Wand der Schießbude, und im Dschungel der Safaribahn schlackert ein Elefant mit den Plastikohren. Hier steht ein kleines Riesenrad, das „Russische Schaukel“ heißt. Schmiedemeister Alexander aus Chemnitz hat es einst zusammengeschraubt, fast sechzig Jahre schmückte es den Bremer Freimarkt. Zehn, zwölf Meter mag es hoch sein, hat zierliche Gondeln und blaue Zwiebeltürme mit goldenen Sternchen auf dem Dach des Eingangs. Ein hübsches Stück, aber eher etwas fürs Auge. Sanft geht das Rad im Kreis herum, hält schließlich wieder an — und man hängt in der Luft. Erst steigen die Mitfahrer der unteren Gondel aus, oben schwankt es ein wenig, dann ein wenig mehr, und sehr abrupt wird einem das Alter der Anlage bewußt. Dann geht's in den „Metroliner“. Die Schienen des „Metroliner“ führen rundum in einem Bretterbau wie in einer Halbkugel, hoch und hinunter, der flache Zug rast darüber, hinunter und hoch, die Wände entlang, nagelt die Passagiere auf die Bänke und klebt sie dicht aneinander. Raserei ohne Schnörkel, dreißig Sekunden in Sitzrichtung, das sind vier oder fünf Runden, verlangsamt dann — an dieser Stelle böte sich zur Befriedigung bisher düpierter Erwartungen der intellektuellen Leserschaft die Einfügung eines passendes Zitats von Paul Virilio an, Geschwindigkeit und Hexerei betreffend, aber die Zeit reicht dann doch nicht dafür — und schießt im selben Tempo dreißig Sekunden lang rückwärts im Rund. Danach: der Magen, ein durchgewalkter Tintenfisch, Knie wie Marshmallows — so muß es sein, genau so!
Der schwellende Bizeps von Jürgen oder Michael
Auf einer blauen Bühne mit lila Samtvorhängen findet die erste Kung-Fu-Show des Tages statt. „Stefan Milers und sein Kampfsport- Team werden Kopf und Kragen für Sie riskieren.“ Das hört man gern, notgedrungen zunächst aber die Platte, die der Stefan mitgebracht hat: „Fighting for my life“.
Fanfarenklänge. Sodann tritt, umwallt von künstlichen Nebeln, muskulös von Brust und düster von Antlitz, Stefan nebst Mitfightern Michael und Jürgen auf die Bühne. Zunächst schwenkt er eine rote Fahne, obwohl man das neuerdings doch nicht mehr tut. Dann wirbelt er „zwei elfgliedrige Würgeketten“. Genug der Präliminarien, blank gezogen! Auf dem schwellenden Bizeps von Jürgen — oder Michael? — schnipselt er mit einem blitzenden Samuraischwert eine Gurke in Scheiben, als ob der Gurkenhobel noch nicht erfunden wäre. Dann schießt er mit Blasrohrpfeilen Luftballons kaputt, haut einen Stapel Ytong-Platten zu Bruch und räkelt sich auf einem Nagelbrett. Zu guter Letzt hechtet Michael — oder Jürgen? — durch einen brennenden, mit Messerklingen gespickten Reifen. „Ich mag so was ja“, sagt der Mittvierziger mit den schütteren, sorgsam über die Glatze gekämmten Strähnen. Seine Frau, im gleichen orangenen Ballonseidenanzug, nickt. Sie ja auch.
Der Tag geht dahin, man weiß gar nicht wie. Gegen Mittag darf die Leserschaft mit gutem Recht eine erste Zwischenbilanz erwarten, zumindest aber ein paar abgeklärte Statements. Alsdann: „Abgesehen von einem Brötchen zur Wurst, das geschmacklich und konsistentiell frappierend an tiefgekühlten Hartschaum gemahnte, bisher keine Enttäuschungen. Ein Riesenangebot an Fahrgeräten und Schleuderinstrumenten, zu Luft und zu Wasser. Spielmöglichkeiten für Kleinere. Die Klos sauber, in manchen pinkelt man zu den Klängen eines venezianischen Rondos. Das Preis-Leistungs- Verhältnis stimmt. Würstchen kosten 3Mark, das Stück Pizza 3,50Mark, schmeckt aber. Auch eigene Picknickkörbe mitzubringen ist nicht verboten.“
Nach diesem eleganten kulinarisch-literarischen Übergang setzt sich der Autor in „Bonanza City“ auf die Veranda des Saloons und ordert Fleischspieß mit Bohnen und Kartoffelplätzchen in eiserner Pfanne.
Im nahen Brunnen waschen Kinder Gold aus dem Sand, der von einem Herrn im Lederjäckchen immer wieder mal aus einer Dose golden angereichert wird. Es gibt Streit. Ein Mädchen weigert sich, die ausgesiebten Nuggets zu einer Münze prägen zu lassen, wie das hier Sitte ist. Trau — schau — wem, auf den Claims wurde schon mancher übers Ohr gehauen. Die Mutti will die Münze. Vati hält zu Mutti, Mutti gewinnt, Kind weint. Rauh ist das Land, und rauh sind die Leute.
Harte Währung ist gefragt in Bonanza City. Der Schmied will 5Mark für ein Hufeisen mit eingestanztem Namen, das Foto in Lizzys Antik-Studio, für das man sich als Molly Brown oder Little Joe ausstaffieren lassen kann, kostet 19,50 Mark, und für die gemeine Indianerfeder nimmt der Krieger vom Stamme der Medizinstudenten 2,50 Mark. Umsonst ist hier nur das Grollen des Berges in der Bärenhöhle und das Bekenntnis des neu eingeführten Sheriffs: „Überzeugend zu wirken und sich Respekt zu verschaffen, das ist schon eine Aufgabe.“
Der ganz gewöhnliche Alltag im Westen. Im Süden aber, am Himmel, am Horizont, unübersehbar, Wagnis und Herausforderung zugleich: Er. Der Looping. Er will jeden. Er kriegt jeden, am Ende.
Der Looping ist immer und überall
Doch noch läßt er sich weiträumig umgehen. 3-D-Kino. „Sea Dreams“ im Hansapark. Durch die rot-grüne Brille findet die Evolution im Saale statt: Oktopus frißt Krebs, Barrakuda verschlingt Korallenfisch. Klapperschlange beißt Kamera. Alles direkt vor Augen, zum Greifen nah, Brandung schwappt in den Kinosaal, die Seeanemone wedelt mit ihren Tentakeln darin herum, und zu guter Letzt eine Kamerafahrt in luftiger Höhe, ein Blick, hinüber in die Holsteinische Schweiz. Als das Bild kopfsteht, wissen alle: der Looping. Der Looping ist immer und überall. Weshalb noch flüchten, halten wir stand. Er bewegt uns doch.
Einen letzten Aufschub holt der Autor noch heraus. Flüchtet in den „Fliegenden Hai“. Gepolsterte Bügel pressen die wagemutigen, die leichtsinnigen, sie sensationslüsternen Mitfahrer in die blauen Sitze. Die Kabine ähnelt einer großen Banane aus Stahlrohr. Gitter schieben sich vor die Einstiegsluken, ringsherum pfeift der Wind durch. Langsam, wie ein Hammer, der an einer Schnur geschwungen wird, setzt sich die Achse mit der Kabine am Ende in Bewegung. Die Sitze sind fest: Oben angekommen, hängt man mit dem Kopf nach unten in den Polstern. Dann beschleunigt die Zentrifuge, bei den Passagieren setzt Jammern und Zähneknirschen ein, und alle eint der eine Wunsch: Nichts wie raus hier! Hinterher stellen sich alle wieder an. Es macht keinen Sinn, nur feuchte Hände, aber der Mensch will es offensichtlich so. Wer dem Hai entkommen ist, dem steht der Sinn nach Erbaulichem. In der Muschelausstellung erfaßt den Besucher Ergriffenheit. Ein Biotop der fünfziger Jahre hat sich hier erhalten. Hier gibt es sie noch, die glasierten Muschelkästchen, Muschellämpchen, Muschelkörbchen, Kreationen von ausgesuchter Scheußlichkeit, die man längst für ausgestorben hielt.
Im Varieté Lichter, Musik, viel freies Tänzerinnenbein und dann die schwebende Jungfrau. Schwebend. Auf der Bühne hantiert eine Frau in schwarzem Knautschlack mit dem guten alten Hula-Hoop-Reifen, mit zwei, drei, fünf, zehn, zwanzig Hula-Hoops. Ihr Partner steigt auf einen Mast, ein Messer im Mund, auf dessen Spitze er ein Schwert wiederum auf der Spitze balanciert. Schnallt sich an und dreht sich kopfüber im Kreis. Nichts fällt runter.
Des Rummelns höchste Lust
Doch nunmehr ist die Geduld des Loopings endgültig zu Ende. Eigentlich ist der Looping Teil des „Superrollercoaster“, und der wiederum hört auf den Namen „Nessie“. Je zwei Personen passen in einen der vierzehn aneinandergekoppelten Wagen, die Haltebügel klappen zu, und schon geht die Fahrt ab. Zunächst sehr steil nach oben und dort in luftiger Höhe ein bißchen im Kreis herum. Doch gleich kippt der ganze Zug nach vorne weg, donnert in die Tiefe, daß der Magen Fahrstuhl nach oben fährt, und saust mit diesem gewaltigen Schwung in den Looping hinein. Es geht drunter und drüber, oben ist unten, und unten ist oben, und wer die Augen dabei offen hält, spürt es genau: Die Welt schlägt Purzelbaum und reißt mit hinein. Hinein in den Abgrund, hinunter in den Himmel, hinaus in den Raum. Schon rast der Zug durch weitere Täler, um spitze Kehren und zum guten Ende hinab in den Rachen des Ungeheuers, tief ins Dunkel, wo er von einem Lichtgewitter und ohrenbetäubendem Donnern empfangen wird. „Nessie“ — das ist Hansapark pur. Des Rummelns höchste Lust. Danach kann nichts mehr kommen.
Anfahrt: Mit dem Auto über die A1, Lübeck-Puttgarden, Ausfahrt Eutin oder Neustadt-Süd. Mit der Bahn: DB-Bahnhof Sierksdorf, fünf Minuten Fußweg. Geöffnet von 9.April bis 18.Oktober 1992, ab 9 Uhr. Eintritt: Erwachsene 21, Kinder 19 Mark, Gruppen ab 20 Personen 15 Mark pro Person. Telefon: 04563/7051
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