In Bosnien gibt's kein Erdöl

„Das auffällige Schweigen der westlichen Intellektuellen ist der Situation in Jugoslawien nicht angemessen.“ Ein Gespräch mit dem kroatischen Theaterautor Slobodan Snaider  ■ Von Gerhard Preußer

taz: Im Januar 1991 schrieben Sie [in „Theater heute“, 1/91], in Jugoslawien sei die „Nemesis der Utopie“ des Sozialismus am heftigsten. Inwiefern ist der blutige Zerfall Jugoslawiens die Rache einer gealterten Utopie?

Slobodan Snaider: Was sich im Januar 1991 noch wie eine diffuse Ahnung ausnahm, wurde wenige Monate später als tragische Realität bestätigt. Ich hatte also Erfolg mit meiner „Prognose“; das Gegenteil wäre mir lieber gewesen. Ich sah vor allem, daß das, was bei uns Sozialismus hieß, nur eine dünne, über das gesellschaftliche Sein gezogene Folie war und daß darunter die nicht bewältigte Vergangenheit lauerte. Die ernsten, die ernstesten Fragen wurden um des häuslichen Friedens willen unterdrückt, und die Sache lief, solange man sich vormachte, daß dieser Friede, diese Liebe, dieses Haus eben das seien, was alle wünschten. Lange vor den entscheidenden Veränderungen war bei uns die Atmosphäre der Lügen geradezu physisch zu spüren. Wir hatten einander abgeschrieben, lange bevor die Bedingungen für so etwas herangereift waren.

Da sie wußten, wie fragil ihre Träume waren, haben die großen Träumer von utopischen Gemeinschaften ihre Projekte auf ferne Inseln, ins Unerreichbare versetzt. Und nun scheint auf einmal, daß es für den Träumer und für das, wovon er träumt, so besser ist, und ganz besonders für diejenigen, die von der Utopie beglückt werden sollten. Selbst der kleinste Versuch, die Utopie nahezubringen und zu verwirklichen, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Und dieses Gegenteil ist die totalitäre Herrschaft.

Nicht nur politisch; Jugoslawien war auch als eine multikulturelle Gemeinschaft gedacht. Ich selbst habe die Begegnung von drei Weltreligionen gerade auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien seinerzeit als Chance des Reichtums in den Unterschieden empfunden. Alles lag daran, die Unterschiede zu erahnen, zu erfühlen, kulturwissenschaftlich zu fixieren, nicht aber sie zu bewerten. Plötzlich gab es dann nur noch das absolut Gute und das absolut Böse, es gibt nur noch das Unsere und das Ihrige. Doch das war bereits die Folge von etwas anderem: die Tatsache, daß sich zwischen den westlichen und den östlichen Teilen des ehemaligen Jugoslawien plötzlich ein unüberbrückbarer Abgrund aufgetan hat, kann durch das Problem der Ungleichzeitigkeit erklärt werden. Der östliche Teil hat sich für eine banale Militärdiktatur entschieden, mit der bizarren Idee, das riesige, theoretisch allen Völkern des einstigen Jugoslawien zugehörige Militärpotential gegen den Erzfeind zu richten und sich endlich für alles zu rächen. Die westlichen Republiken dagegen begaben sich auf den Weg zur Demokratie, obwohl schon ziemlich klar ist, daß die Demokratie eine lange und teure Schule ist. Im Gegensatz zu dem, was viele sonst gut informierte westliche Intellektuelle denken, kann man also in unserem Fall nicht von gleicher Schuld auf beiden Seiten sprechen, und darum ist das auffällige Schweigen dieser Menschen der Situation nicht angemessen.

In Ihrem Beitrag zum Symposion des Internationalen Theaterinstituts (ITI) während der Bonner Biennale schreiben Sie, die besiegte Utopie bleibe nolens volens die unsrige. Welche Rolle kann die sozialistische Utopie nach den jugoslawischen Erfahrungen noch spielen?

Vielleicht die, daß die Sache des Sozialismus nach Westen rückt, wo auch der Ursprungsort ihrer Idee liegt? Ist nicht etwas Skurril-Komisches zum Beispiel in der Tatsache, daß der Osten heute die totale Privatisierung anstrebt, das absolute „laissez faire, laissez aller“ in der Wirtschaft, mit der Hoffnung auf unbegrenztes Wachstum, das aus einer Gesellschaft von Habenichtsen eine Gesellschaft von wenigstens kleinen Unternehmern machen werde, während der aufgeklärte Westen über seine klügeren Köpfe dazu tendiert, das Wachstum einzuschränken, die Umnweltverschmutzung zu verringern, einen Teil des Profits der Dritten Welt zurückzugeben, was im Grunde bedeutet, Elemente der im Osten verhaßten Planwirtschaft einzuführen? Wenn der liebe Gott in seinen Mußestunden noch hin und wieder einen Blick auf unsere Gegend wirft, amüsiert er sich wahrscheinlich köstlich über das Spiel, das da oben heißt: Die Völker und ihre Systeme!

Ich glaube, daß es auch sonst gut wäre, den heutigen Diskurs der Sieger zu relativieren. Jugoslawien ist eine verlorene Sache, okay, das können wir verstehen. Aber die totale Dämonisierung Jugoslawiens weist im Grunde auf eine neue ideologische Verzerrung der Wirklichkeit beziehungsweise der Geschichte hin. Darüber wird man realer erst urteilen können, wenn die Logik des Territoriums, des Geldes, der Arbeit und des Kapitals die Völker des ehemaligen Jugoslawien zwingt, zusammenzuarbeiten, natürlich von der Position neuer, souveräner Staaten — was möglicherweise viel besser geht als bisher —, anstatt sich gegenseitig umzubringen. Aber der östliche Teil des einstigen Jugoslawien ist so narkotisiert, daß es wohl noch sehr viel Zeit braucht für ein langes, schmerzliches Erwachen.

Der Sozialismus ist also, wie Bloch sagt, eher jenes Ungeborene, als etwas, das wegen seines Alters verbraucht sein sollte. Ich werde Ihnen übrigens einen deutschen Dramatiker [Heiner Müller] zitieren, der mit einer scharfen Formulierung auch Ihre Zeitung gestreift hat: „Deshalb ist es auch so langweilig, wenn die taz und die andere vom ,Bankrott des Sozialismus‘ schreiben. Denn die Kategorien von Sieg oder Niederlage greifen da überhaupt nicht — das Problem des Lebens in der Tiefe bleibt für die Welt bestehen.“

Sie beschreiben die gegenwärtige Situation des Menschen als eine der „unerträglichen Freiheit“. Gibt es eine Renaissance des Existentialismus in Osteuropa?

Versteckt in der Korrespondenz von Gustave Flaubert habe ich eine phantastische Stelle gefunden, wo sich der „Einsame aus Croisset“ an folgender Entdeckung begeistert: In der ganzen Geschichte der Menschheit gibt es nur eine einzige Epoche, irgendwo zwischen Cicero und dem römischen Kaiser-Philosophen Marc Aurel, da der Mensch allein war, weil das römische Pantheon zerstört und das Christentum noch keine Kirche, das heißt Institution geworden war: allein, ergo frei.

Nach meiner Meinung drängen sich Parallelen zum Heute förmlich auf. Die totalitären Regimes sind zerfallen, und der Westen hat den Menschen, der dort ohnehin entweder Produzent oder Konsument, also nicht auch Mensch ist, schon früher aufgegeben. Am Ende der Geschichte steht demnach ein seltsamer Zweibeiner, und nun geht es darum, ob er ohne ideologische Obhut und Lüge überdauern, ob er in Freiheit existieren kann.

Ich gebe zu — und Ihre Frage hat mich daran erinnert —: dieser kleine Exkurs klingt ganz existentialistisch. Der Teufel mag es wissen! Wenn der Existentialismus den Vorrang der Existentia vor der Essentia bedeutet, dann natürlich! In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien ist die Existentia — um nicht mit Jaspers zu sagen: in verschiedensten Grenzsituationen — als bloßes Überleben unweigerlich wichtiger, als irgend eine Essentia. Auch das könnte der Westen, der sich diverse Philosophien leisten kann, endlich begreifen. Die Dinge haben bei uns einen Punkt erreicht, da es sich wirklich nicht mehr um Systeme handelt, und bei uns in Zagreb würde meine Erörterung zum Beispiel über die eventuell verbliebenen weltgeschichtlichen Chancen des Sozialismus sehr „sophisticated“ erscheinen. Es geht nicht um die Völker, es geht eigentlich nicht mehr um den Bürgerkrieg. Es geht um Menschen, die so leiden, wie es überhaupt nur möglich ist, das heißt jenseits jeder möglichen Schilderung. Ich glaube, ich kann Ihnen hier in Deutschland eine mehr oder weniger genaue Analyse der Ursachen für die heutigen Nöte geben. Aber das Wissen, der Einblick, den ich Ihnen ermögliche, kann das Leid von Millionen Menschen nicht lindern.

Die fragile, nackte Existentia scheint vor jeglicher Essentia zu stehen. Dann rächt sich die Essentia folgendermaßen: Im Unterschied zu Kuwait gibt es in dem unglücklichen, verbrannten Bosnien kein Erdöl, und Benzin hat im Französischen denselben Namen wie Essentia: essence. Also weil es kein Erdöl gibt, aus dem essence gewonnen werden könnte, werden die Amerikaner in diesem Einzelfall nicht die „Weltgendarmen“ sein. Diese Schlußfolgerung ist weniger philosophisch als an den Realitäten orientiert.

Gibt es heute noch eine öffentliche Rolle für die Schriftsteller in Osteuropa (sofern sie nicht den Beruf gewechselt haben und Präsidenten oder Parlamentarier geworden sind)?

Obwohl Vaclav Havel schon erfahren haben dürfte, wie schwer es ist, Präsident eines Staates zu sein (er ahnte wohl nicht, daß es sich mindestens um zwei handelt), wird für mich der Beruf des Schriftstellers stets schwerer sein als der des Politikers. Denn mich interessieren ausschließlich schwere, die schwersten Dinge. Und wenn sich jemand aus heiterem Himmel für eine Karriere als Politiker entscheidet, zumal wenn er in seinem Leben schon mit Erfolg etwas anderes getan hat, dann kann ich mein Mißtrauen gegenüber einer solchen Persönlichkeit kaum unterdrücken. Ich werde also Timon ein, ich werde mich in der Philosophie von Ibsens Dr. Stockmann üben, lieber Shakespeares Timon als Koriolan mit seinem „Gebt mir eine Stimme!“

Na gut, für Sie in Deutschland ist das etwas anderes. Ihre Gesellschaft entwickelt sich im Grunde zu einer postpolitischen Gesellschaft, bei Ihnen ist die Verteilung der wirklichen gesellschaftlichen Macht anders. Wir sind in einer vorpolitischen Gesellschaft, wo die politische Sphäre plötzlich sehr wichtig, dominant ist. Daraus folgen gewisse Risiken, aber sie sind unvermeidlich.

Tadeusz Rozewicz bilanzierte die künstlerische Entwicklung der Jahre nach den politischen Umwälzungen in Osteuropa auf dem ITI- Symposion pessimistisch: es seien keine neuen künstlerischen Formen entstanden. Folgt auf die politische Stagnationsperiode eine ästhetische?

Rozewicz sollte man glauben. Schließlich handelt es sich um einen der besten lebenden Kenner der avantgardistischen Strömungen in der Kunst überhaupt. In Kroatien haben wir einfach keine Zeit für eine neue Epoche der politischen Stagnation. Insgeheim hoffen wir alle auf schnelle politische Veränderungen, welche jene Voraussetzungen ablösen würden, die einfach langwierig und veraltet sind. Ob die Kunst diese Veränderungen reflektieren wird, ist schwer zu sagen.

Aber in der Tatsache beispielsweise, daß unsere Städte von unseren eigenen Waffen zerstört werden, daß Nachbarn von gestern einander töten, daß die Politik die Haustore, die Ehebetten und so weiter erreicht hat, sehe ich die Möglichkeit für große tragische Themen. So wie unsere ganze verworrene und blutige neuere Geschichte im Zweiten Weltkrieg ein tragisches Thema und als solches fast unberührt ist. Vielleicht entstehen erst jetzt die Bedingungen, darüber ohne Belastung zu schreiben. Dann der neue Opportunismus des Ostens, die Formen der Anpassung an den Diskurs der neuen Herren, natürlich ohne Bewußtsein davon, daß ihre Herrschaft im System einer liberalen, parlamentarischen Demokratie — wie sie bei uns erst errichtet werden muß — ständig unter strengster Kontrolle der Öffentlichkeit stehen sollte. Als Thema wartet dieser neue Opportunismus noch auf seinen Gogol. Es gibt mehr Themen als Autoren, aber es gibt auch mehr Tage als Bratwürste. Der Druck der Realität und ihrer Erfordernisse ist heute so stark, daß ästhetische Fragen, die nach meiner Meinung einzig durch authentische Produktion und nicht durch die Theorie gestellt und beantwortet werden, ein wenig warten müssen. Aber Schriftsteller träumen auch, wenn sie nicht schreiben. Sie sind wie die Krokodile. Es scheint nur so, als stünde der Nil in Flammen.

Übersetzung: Barbara Antkowiak