„Auf einem Bein steht man schlecht“

Die Deutsche Waggonbau AG, der letzte intakte Großbetrieb der Ex-DDR, sucht fieberhaft nach neuen Märkten, um vom Geschäft mit GUS-Land unabhängiger zu werden/ Sanieren statt privatisieren  ■ Aus Ammendorf Erwin Single

Peter Witt weiß, was den Gussen fehlt. „Von der Eisenbahn“, sinniert der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Waggonbau AG (DWA), „hängen Wirtschaft und Leben in diesem Land ab.“ Täglich rollen dort zwischen St. Petersburg und Wladiwostok Tausende von Personen- und Güterzügen. Die Wagen müssen dabei allerhand aushalten: schlechte Strecken, sibirische Kälterekorde, Gluthitze, Schneemassen und Sandstürme. Ein wirtschaftlicher Aufschwung ohne funktionierenden Schienenverkehr ist dort nicht denkbar. Bei der Erneuerung der Verkehrsader, dem Rückgrat der einstigen Sowjetmacht, will Witt tatkräftig mithelfen. Denn für den DWA-Chef steht damit auch die Zukunft des mit einer Kapazität von rund 4.500 Wagen im Jahr weltgrößten Waggonherstellers auf dem Spiel.

An den GUS-Staaten, das wissen die ostdeutschen Waggonbauer nur zu gut, hängt auch das Überleben des „letzten intakten Großbetriebs der früheren DDR“ (Witt). Seit vierzig Jahren liefert das Unternehmen an seine östlichen Partner und hat damit regelmäßig die DDR-Handelsbilanzen ausgeglichen. Allein auf 28.000 Reisezugwagen haben sie es in der Zeit gebracht; die Spezial-, Kühl- und Güterwaggons eingerechnet, sind es gar über 80.000. Drei Viertel des Umsatzes (1991: 2,16 Mrd. Mark) macht das Ost-Geschäft aus; von den rund 11.000 Beschäftigten arbeiten 9.000 für die Ost-Exporte.

Zusammengebaut werden die über 50 Tonnen schweren Reisezugwagen in Ammendorf bei Halle — wo schon zur Jahrhundertwende Eisenbahnen produziert wurden. Der Ammendorfer Waggonbau ist mit einem Umsatz von 782 Millionen Mark das Herzstück der DWA- Gruppe. Vier Waggons verlassen täglich die vor drei Wochen frisch eingeweihte Werkshalle — verglichen mit der handwerklich orientierten Eisenbahnproduktion in Westdeutschland eine geradezu gigantische Dimension. Rund 400 Millionen Mark hat das wohl modernste und effektivste Werk in Europa gekostet; die Weichen für den Neubau wurden noch zu DDR-Zeiten durch einen mit der Sowjetmacht abgeschlossenen Staatsvertrag gestellt. Das Geld schoß die DWA größtenteils aus eigenen Mitteln zu — für Witt ein Beweis, daß der Waggonbau nach wie vor „kein Kostgänger der Treuhand“ ist.

„Ohne Hermes läuft gar nichts mehr“

Gleich zweimal ist es den DWA-Unternehmen seit der Wende gelungen, Lieferverträge mit dem Moskauer Außenhandelsbetrieb Maschino-Export abzuschließen. „Das kann so schnell kein anderer“, sagt Pressesprecher Günther Krug, die DWA habe mit ihrer Erfahrung und ihrem Know-how einen Vorsprung von zwei bis drei Jahren vor der Konkurrenz. Das schlägt sich auch in den Auftragsbüchern nieder: 1.300 Reisezugwagen und 500 Kühlwaggons sollen 1992 in die Ex-Sowjetunion geliefert werden — für zusammen 1,4 Milliarden Mark und abgesichert über die staatlich gedeckten Hermes- Kreditbürgschaften. Für das kommende Jahr sind bereits Lieferverträge über weitere 1.300 Zug- und 750 Kühlwaggons avisiert.

Den Waggonbauern ist klar, daß die Gussen kaum Geld für weitere Lieferungen haben. „Ohne Hermes“, sagt Peter Witt, „läuft gar nichts mehr.“ Die Situation des ostdeutschen Eisenbahnunternehmens ist typisch für viele Ost-Betriebe. Auch wenn die Risiken der einseitigen Bindung an die inzwischen zerfallenen RWG-Märkte durchaus gesehen werden, ist die Erschließung der ohnehin gut besetzten Märkte im Westen gar nicht so einfach. Und um die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu verbessern, mußten drastische Schnitte gemacht werden. Seit der Wende wurden unter der Regie der Treuhand rund 13.000 Arbeitsplätze gekappt, die Fertigungstiefe drastisch gesenkt, periphere Betriebsteile geschlossen, die Produktion auf die fünf Werke in Ammendorf, Görlitz, Bautzen, Dessau und Niesky konzentriert.

Das Ergebnis: Die DWA schreibt schwarze Zahlen, die Produktivität liegt bereits bei über 100.000 Mark pro Arbeitsplatz. Auch die Berliner Treuhänder sind stolz: Der Waggonbau ist zweifelsohne eine Perle — wenn nicht diese Abhängigkeit vom Osten wäre. Genau hier liegt das Problem: Die Abnehmer aus GUS-Land können vorerst nicht zahlen; die Spezialwagen sind aber nicht nur auf die russische Spurbreite ausgelegt; sie sind auch, ganz nach den Wünschen der Kundschaft, als autarke Einheiten konzipiert. Mit eigener Stromversorgung, autonomer Heizanlage und interner Trinkwasseraufbereitung gleichen die Reisetransporter Einfamilienhäusern auf Rädern. Keine westliche Eisenbahngesellschaft käme auf die Idee, sich solche Monstren auf die Schienen zu stellen.

Um den Devisenbedarf der GUS- Staaten für den Einkauf zu reduzieren, hat sich die DWA-Geschäftsleitung allerhand einfallen lassen. Den Kern soll ein Joint-venture mit dem rund 200 Kilometer nördlich von Moskau gelegenen russischen Waggonbauwerk Twer bilden. Dort soll beim Aufbau einer modernen Waggonfabrik geholfen werden. Rund 230 Millionen Mark will die DWA sich das Ost-Abenteuer kosten lassen — jedoch nur bei staatlichen Abnahmegarantien für fünf Jahre.

„Auf einem Bein steht man bekanntlich schlecht“, warnt denn auch Halles Oberbürgermeister Klaus- Peter Rauen die Ammendorfer Waggonbauer. Doch die Entwicklung neuer Produkte läßt sich nicht binnen Monaten aus dem Boden stampfen. Zwar hat die DWA neben den Reisezugwagen noch einige heiße Eisen im Feuer: die bewährten Doppelstockwagen, eine breite Palette von Spezialgüterwagen oder den neu entwickelten Semitrailer für den kombinierten Schiene-Straße-Verkehr.

Und mit dem Konzept „DO2000“, einem System aus Doppelstockwagen und elektrischen Triebzügen, soll auch jener Markt erobert werden, der die größten Wachstumschancen verspricht: der öffentliche Personennahverkehr. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß sich die aufgeteilten West-Märkte für Newcomer aus dem Osten nur langsam erobern lassen. Die Bundesbahn hat ihre Hoflieferanten; die Schienenkapazitäten sind zumindest in Westeuropa hoch ausgelastet. So sucht man bei den Waggonbauern nach weiteren Diversifizierungsstrategien: An Stahlbau wird dabei genauso gedacht wie an Zulieferfunktionen für die Autoindustrie.

Einen Kooperationspartner oder Käufer hat der Waggonhersteller bisher nicht gefunden. „Der Happen ist riesig“, sagt der zuständige Treuhandmanager Paulin, „für die West- Konkurrenz ist die DWA zu groß und zu teuer.“ Eine Konsortiallösung aus dem Marktführer Siemens, der zum Daimler-Konzern gehörenden AEG- Bahntechnik und ABB-Henschel kam ebensowenig zustande wie eine Übernahme durch AEG und Preussag/LHB.

Kommt die DWA an die Börse?

Die Treuhand-Privatisierer machen keinen Hehl daraus, daß sie die DWA als Ganzes erhalten wollen. Gegen eine überhastete Privatisierung hat sich mehrfach auch Aufsichtsrats- Chef Otto Wolff von Amerongen ausgesprochen. Sein Ziel ist es, die Sanierung des Unternehmensverbundes voranzutreiben. Offensichtlich laufen die Überlegungen darauf hinaus, die DWA unter Beteilung von Treuhand, Banken und einigen Industrieunternehmen an die Börse zu bringen, vermutete jüngst das Handelsblatt. Wenn die DWA durchhält, sind die Aussichten gar nicht so schlecht: Schon in den 90er Jahren werde sich das weltweite Auftragsvolumen auf 60 Milliarden Mark verdoppeln, so eine Siemens- Prognose. „Wir müssen Märkte ausmachen“, gibt DWA-Chef Witt die Richtung an, „wo andere noch nicht drin sind.“