Welche Schuld trägt Wolfgang Schmidt?

Vor einem Jahr wurde eine der bizarrsten Mordserien der Nachkriegsgeschichte aufgeklärt/ Die Boulevardpresse taufte den Täter, der jetzt angeklagt wurde, „die Bestie von Beelitz“/ Der psychiatrische Gutachter geht nicht von Schuldunfähigkeit aus  ■ Von Claus Christian Malzahn

Potsdam/Berlin (taz) — Die Frage, wie er denn um Gottes willen mit so einer Bestie reden könne, wird dem Verteidiger Ulrich Bauschulte öfter gestellt, als ihm lieb ist. Auf solche Neugierde reagiert der Düsseldorfer Jurist mit der Bemerkung, sein Mandant laufe schließlich nicht mit dem Kopf unter dem Arm durch die Gegend. Auch die Staatsanwältin Marianne Böhm, die Bauschultes Klienten vor wenigen Tagen wegen vierfachen Mordes und zweifachen Totschlags angeklagt hat, legt Wert auf die Feststellung: „Wolfgang Schmidt ist ein Mensch.“ Er habe ein Recht auf ein faires Verfahren.

Wenn eine Staatsanwältin und ein Verteidiger unabhängig voneinander zwei Monate vor Prozeßbeginn betonen, daß die durch die Strafprozeßordnung garantierten Rechte — Unschuldsvermutung, Anspruch auf Verteidigung — auch in dem anstehenden Verfahren Anwendung fänden, läßt das nichts Gutes ahnen. Marianne Böhm und Ulrich Bauschulte werden sich voraussichtlich im Oktober vor dem Potsdamer Schwurgericht gegenübersitzen und die Frage debattieren, ob ein 25jähriger ehemaliger DDR-Bürger namens Wolfgang Schmidt voll und ganz für sechs Tötungsdelikte zur Rechenschaft gezogen werden kann oder nicht. Vor den Toren des Gerichtes aber wird man die „Bestie von Beelitz“ endgültig öffentlich exekutieren. Nicht nur sein Bild wurde vor einem Jahr in den Boulevardzeitungen wochenlang auf Seite eins gedruckt, auch das seiner Freundin.

Als Schmidt vor einem Jahr verhaftet wurde, war sie von ihm schwanger, die öffentlich gestellte Frage, ob die Braut das Kind der Bestie austragen dürfe, führte zu einem Schlagzeilenkrieg zwischen den Gazetten Super! und Bild. Die Verlobte von Schmidt brachte kein Kind zur Welt, ob sie es abtrieb oder eine Fehlgeburt hatte, wissen weder der Anwalt noch die Staatsanwältin. Das aber weiß Ulrich Bauschulte: Die Verlobung wurde nicht gelöst, die Freundin von Schmidt bekam im vergangenen Spätsommer einen Job als Sekretärin bei Super!.

Panik in Brandenburg

Er hat fünf Frauen und ein Baby umgebracht. Er hat alles gestanden. Zum ersten Mal tötet er kurz vor der Wende; am 24. Oktober 1989. In dem kleinen Dorf Deetz bei Brandenburg steigt er in einen Bungalow ein, erwürgt dort eine 50jährige Frau und vergeht sich an der Leiche. Ein halbes Jahr später, am 24. Mai 1990, erdrosselt Schmidt, der inzwischen als Landarbeiter tätig ist, die 55jährige Christa N. auf einer Müllkippe in der Nähe der brandenburgischen Gemeinde Ferch. Wieder befriedigt er sich an der Toten, vorher zieht er sich Damenunterwäsche an. Im Juli 1990 verletzt er eine Frau lebensgefährlich, am 13. März 1991 vergewaltigt er die 34jährige Inge F. in einem Wald bei Potsdam. Anschließend tötet der 1,90 große Mann auch sie. Neben der Leiche findet die Polizei Unterwäsche, die nicht der Toten gehörte.

Die Bewohnerinnen der kleinen Dörfer südlich von Potsdam reagieren inzwischen mit panischer Angst auf die unheimlichen Morde. Die Polizei warnt davor, alleine durch die Wälder zu spazieren. Alte Frauen radeln nur noch gemeinsam zum Waldfriedhof, junge Mütter schieben ihre Kinderwagen nur noch in Begleitung von Schäferhunden durch die Dörfer, Einzelhändler melden Rekordverkäufe von Schreckschußpistolen und Tränengas. Bei Dämmerung wirken die kleinen Waldgemeinden wie ausgestorben.

Am 23 März überfällt Wolfgang Schmidt die russische Arztfrau Tamara P. in einem Waldstück bei Beelitz. Er erdrosselt sie mit einem BH, schmettert den kleinen Körper ihres drei Monate alten Sohn Stanislav so lange gegen einen Bau, bis auch er nicht mehr am Leben ist. Schmidt hinterläßt Slips, Blusen und Röcke am Tatort. Die Polizei gerät langsam unter Druck: schon vier Morde, noch immer kein Täter. In den Wäldern bei Potsdam patrouillieren Polizisten in Zivil, eine 50köpfige Sonderkommission sucht fieberhaft nach einem brauchbaren Hinweis aus der Bevölkerung. Marianne Böhm nimmt schon zu diesem Zeitpunkt an, daß beim Täter eine „sexuelle Devianz“ vorliegt. Den Durchbruch bringt diese Erkenntnis nicht. „Was glauben Sie, wie viele Wäschefetischisten alleine in Brandenburg rumlaufen!“ sagte die 29jährige damals zur taz.

Am 5. April überfällt Schmidt zwei spielende Mädchen auf einem Acker bei Sputendorf. Er verletzt sie mit einem Messer, doch die 12jährigen Kinder können fliehen. Noch am selben Abend bricht Schmidt in ein Haus in Fichtenwalde ein, tötet die 66jährige Rentnerin Talita B., befriedigt anschließend seinen nekrophilen Trieb. Die vor ihm geflüchteten Freundinnen können den Fahndern eine Täterbeschreibung liefern. Marianne Böhm ist skeptisch: „Ob der Täter wirklich so aussieht wie auf dem Plakat, das kann man nie wissen.“ Wolfgang Schmidt sieht genau so aus.

In jeder Gaststätte, jeder Schule, jedem Bahnhof und an jeder Bushaltestelle klebt nun das Fahndungsplakat. Hunderte von Hinweisen aus der Bevölkerung gehen ein, heiße Spuren werden kalt, kalte Spuren wieder heiß. Doch bis zum 1. August fahndet die Polizei vergeblich nach dem Mann, der die Bewohner der brandenburgischen Waldsiedlungen bei Potsdam in Angst und Schrecken versetzt. Der entscheidende Tip kommt schließlich von zwei Joggern: Sie erwischen Schmidt onanierend in einem Wald bei Schmertzke; über einem lilafarbenen Sweatshirt trägt er einen BH. Mit einer Brechstange halten sie den Hünen in Schach und bringen ihn zur Polizei. Noch in derselben Nacht gesteht er alle seine Taten.

Vermindert schuldfähig?

Wolfgang Schmidt ist seitdem in der geschlossenen Abteilung der Nervenheilanstalt Brandenburg untergebracht; für verrückt beziehungsweise schuldunfähig hält ihn Marianne Böhm aber nicht. Ein psychiatrisches Gutachten des berühmten Forensikers Wilfried Rasch, der seinerzeit ein Gutachten über den Kindermörder Jürgen Bartsch anfertigte, kommt zu dem Ergebnis: Schmidt war sich der Schwere seiner Taten bewußt. Rasch glaubt aber, daß der Paragraph 21 des Strafgesetzbuches, der die verminderte Schuldfähigkeit regelt, bei der Strafbemessung zur Anwendung kommen sollte. Die Entscheidung darüber, ob Schmidt voll und ganz oder nur bedingt für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden kann, fällt erst in der Hauptverhandlung. Rasch wollte sich vor dem Prozeß auch nicht darauf festlegen, ob Schmidt seine Opfer im Affekt oder vorsätzlich getötet hat.

Marianne Böhm muß die ersten drei Verbrechen, die Schmidt begangen hat, nach altem DDR-Recht anklagen. Ein Delikt namens Totschlag gab es im realen Sozialismus nicht: nur Mord. Eine differenzierte Anklage war also laut Einigungsvertrag gar nicht möglich. Ob Mord, Totschlag, vermindert schuldfähig oder voll und ganz: Wolfgang Schmidt wird die kommenden Jahrzehnte vermutlich hinter Gittern verbringen. Sollte das Gericht den Paragraphen 21 berücksichtigen, bedeutet das noch lange nicht, daß die Strafe für Schmidt geringer ausfallen muß. Die Richter können, müssen aber nicht mindern. In Berlin wurde vor kurzem ein 23jähriger Tischler wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Mann hatte den zweijährigen Sohn seiner Freundin zu Tode geprügelt. Obwohl die Richter von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgingen, verhängten sie wegen der „besonderen Grausamkeit der Tat“ die Höchststrafe. Zu einer ähnlichen Rechtsauslegung könnte es im Herbst auch in Potsdam kommen. Ob die Presse den Prozeß beobachten kann, steht in Frage: In der Potsdamer Staatsanwaltschaft wird darüber nachgedacht, die Öffentlichkeit auszuschließen. Denn: Wolfgang Schmidt ist ein Mensch, auch wenn seine Taten anderes vermuten lassen.