Verbrechen und Moral

■ Der Sexualmediziner Reinhard Wille wertete hundert Jahre Kriminalstatistik zu Sexualdelikten aus

Prof. Reinhard Wille hatte für sein Referat hundert Jahre deutsche Kriminalstatistik über Sexualdelikte ausgewertet, um die Spannungsbögen von Zeiten starker sexueller Repression zu Zeiten relativer Toleranz aufzuzeigen. Eins der Ergebnisse des Leiters der Kieler Sexualmedizinischen Forschungs- und Beratungsstelle: Von 1885 bis 1990 hat sich die Anzahl der wegen sexueller Delikte Bestraften halbiert. Die „Kriminalitätsziffer“, das heißt die Zahl der Verurteilten auf 100.000 Einwohner sank in hundert Jahren von 20,3 auf 11,8.

Im prüden wilhelminischen Zeitalter war sie hoch, dann verringerte sie während der Weimarer Republik, stieg im Nationalsozialismus wieder extrem an und blieb auch in der restaurativen Nachkriegszeit auf recht hohem Niveau. Doch die Mitte der 60er Jahre einsetzende sexuelle Liberalisierung senkte dann beispielsweise die Empfindlichkeit gegenüber Exhibitionismus, der 20 Prozent aller Sexualdelikte ausmacht, oder auch die Anzahl der Taten selbst.

Bei der Pädophilie, die ein Drittel aller Sexualdelikte stellt, ist die Kriminalziffer ebenfalls stark gesunken: von 20,0 im Jahre 1890 auf heutige 6,1. Im Gleichklang dazu haben auch die Strafen für homosexuelle Handlungen, die nach Paragraph 175 des Strafgesetzbuches geahndet wurden — in seiner heutigen, zweimal reformierten Fassung ist die Strafbarkeit heute auf Sex zwischen männlichen Erwachsenen und Jugendlichen reduziert —, sehr abgenommen. Die Kriminalitätsziffer stieg bis zum Ersten Weltkrieg langsam an, um dann unter den Nazis mit 33,4 Verurteilten pro 100.000 Einwohnern geradezu zu explodieren. 1955 lag die Ziffer noch bei 14,0, 1990 bei 0,4.

Ganz im Gegensatz zu diesen Trends sind jedoch die sexuellen Aggressionsdelikte in hundert Jahren auf das doppelte angestiegen. Vor allem zwischen Jugendlichen sei „Gewalt ein zentrales gesellschaftliches Problem geworden“, so Reinhard Wille. Der Anteil der Gewalttaten lag in den Anfängen der Kriminalstatistik noch bei 8,7 Prozent, heute machen sie mehr als ein Viertel aller Sexualdelikte aus. Manches sei wohl auf den „Mittäter Alkohol“ zurückzuführen, so der Sexualmediziner [free dope! d.K.]. Spielt hier womöglich noch ein anderes Moment herein, die Weitergabe von erlebter Gewalt von den Vätern an die Söhne? Jedenfalls findet sich laut Wille ein statistischer Höhepunkt sexueller Gewalt zehn Jahre nach dem Ersten und 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.