Industrie rein in die Stadt

Industrie rein in die Stadt

Ein Teil der Berliner Industrie wandert ab, ins Umland oder in fernere Billigregionen; der andere macht dicht. Das sieht wie ein ökologischer Vorteil aus — ist es aber keineswegs.

Zunächst einmal kann es nicht hingenommen werden, daß von fast einer Viertelmillion Industriearbeitsplätzen im Ostteil nur etwa 60.000 übrig sind, von denen nur 20.000 als rentabel gelten. Es kann niemanden beruhigen, daß eine solche Deindustrialisierung verbunden ist mit einem Büroboom, der die Grundstückspreise in die Höhe treibt, die Kiezbewohner ebenso wie das Gewerbe vertreibt und die Zuwanderung von »Nadelstreifendienstleistern« erfordert, die dann auf dem Wohnungsmarkt mit den Arbeitslosen konkurrieren. Und da der Büroboom stark spekulativ ist, wird sicherlich auf die Industriekrise die Immobilienkrise folgen. London läßt grüßen.

Es kann auch niemanden beruhigen, daß Berliner Unternehmen auf billige Brandenburger Grünflächen ausweichen und das Recycling kontaminierter Industrieflächen immer unattraktiver wird.

Ich bin dafür, daß die Industrie- und Umweltprobleme der Stadt vor Ort gelöst werden. Daß die Stadt in einer ökologischen Modernisierung der Industrie ihr spezielles Profil sucht. Und daß sie sich um Musterlösungen vor Ort bemüht, die auch für andere industrielle Ballungsräume relevant sind. Die Standortbedingungen sind dafür günstig.

Verlagerungen in ländliche Räume verringern nun aber den Innovationsdruck, ohne den ein umweltverträgliches Wohlstandsmodell nicht entstehen wird. Entwickelte Ballungsräume wie Berlin haben andererseits technologisch wie vom gesellschaftlichen Informations- und Bewußtseinsstand her die besten Voraussetzungen, den langfristigen ökologischen Modernisierungszwang mit entsprechenden Innovationen zu beantworten.

Berlin und sein Umland haben eine Menge Standortvorteile für die Lösung der hier anfallenden Probleme: Hier gibt es eine entwickelte Umweltforschung. Hier wird moderne Bahn- und U-Bahn-Technik produziert. Hier gibt es vorbildliche Experten für die Bodensanierung. Hier gibt es eine traditionelle elektrotechnische Industrie, die nur aus ihrer Verschlafenheit erweckt werden müßte, um den Zukunftsmarkt sparsamer Elektrogeräte zu erschließen. Ähnliches gilt für den Anlagenbau. Gerade für ihn würde der langfristige Zwang zu ökologisch angepaßten Verfahren Chancen eröffnen.

Warum sollte man den Innovationsdruck durch Verlagerung verringern? Selbst die heikle Abfallproblematik wird im Grundsatz immer noch am besten gelöst, wenn das Problem nicht durch Verlagerung und Export verdrängt werden kann.

Wir sollten nicht abwarten, bis alle Ballungsräume zusammengewachsen und räumliche Ausweichprozesse nicht mehr möglich sind. Was spätestens dann gilt, muß heute schon gelten: daß in Industriegebieten langfristig ökologisch nachteilige Wachstumseffekte durch immer weitergehende ökologische Modernisierung vor Ort ausgeglichen werden müssen.

Der Bedarf an Industriegütern läßt sich zwar — zum Beispiel durch langlebigere Produkte — verringern. Aber im Kern wird ein umweltverträgliches Wohlstandsmodell neben den immateriellen Gütern und Diensten auch den fundamentalen Wandel in der Industrie setzen müssen: auf die Senkung des Material- und Energieverbrauchs, der Transport- und Abfallbelastung und des Risikoniveaus. Und auf die vielfältigen Dienstleistungen, die dies bewirken, von der Forschung bis hin zu Beratungen aller Art. Standgerechte Industrie dieser Art, die sich meist auch als Kreuzberger Mischung ansiedeln läßt, ist besser als einseitige Deindustrialisierung.

Prof. Jänicke war von 1981 bis 83 für die AL im Abgeordnetenhaus, arbeitet an der Forschungsstelle für Umweltpolitik am Otto-Suhr-Institut und war an der Studie »Ökologische Dimensionen industriellen Wandels« beteiligt.