Gold für das stärkste Ohr Alaskas

■ Olympics der Eskimos und Indianer in Alaska: Beim Ohrenlangziehen, Viermann-Schleppen, Lachs-Wettschlachten und Beidfußhochtritt helfen sich die Konkurrenten gegenseitig

Fairbanks ( taz) — Bevor Brian Randazzo zu seinem dritten und letzten Versuch über 2,37 Meter ansetzt, eilen seine Konkurrenten zu ihm und geben Ratschläge, wie er die Höhe meistern könnte. Dann läuft Randazzo an, springt mit beiden Füßen ab, berührt mit beiden Zehenspitzen die aufgehängten Lederkugeln und gewinnt die Goldmedaille.

Der beidfüßige Hochtritt gehört mit rund fünfzig anderen skurrilen Disziplinen zum sportlichen Programm der „World Eskimo Indian Olympics“, die seit 1961 jährlich in Fairbanks im US-Bundesstaat Alaska ausgetragen werden und am Samstag zu Ende gingen. Mit vier Goldmedaillen könnte der Aleut Randazzo, der in Anchorage lebt, vermutlich zum Star der Spiele avancieren, wenn ihm diese Kategorie der modernen Heldenverehrung denn behagen würde. „Aber“, sagt der 25jährige, „was wir hier tun, ist etwas ganz anderes als Sport westlicher Prägung. In unserer Kultur geht es nicht darum, den anderen Sportler zu erledigen, sondern mit ihm zusammen ein Ziel zu erreichen.“

Aus dieser Haltung resultiert, daß der Wettbewerb der sechs Finalisten im beidfüßigen Hochtritt von außen wie ein Experiment in Gruppenarbeit ausschaut. Der acht Monate dauernde arktische Winter Alaskas hat die Spiele und Wettkämpfe seiner frühesten Bewohner insofern geprägt, als es in ihnen vor allem darum geht, sich in extrem harten klimatischen Bedingungen zu behaupten und zu überleben.

Alle diese Spiele sind Tausende von Jahren alt, und, wie die Olympia-Organisatorin Drena McIntyre meint, „durch die Einführung dieses Festes vor dreißig Jahren davor bewahrt worden, in Vergessenheit zu geraten“. Denn die letzten drei Generationen der Ureinwohner des amerikanischen Nordwestens sind von zwei Flüssigkeiten heimgesucht worden, die ihren traditionellen Lebensstil verwüstet haben: Erdöl und Alkohol. „Unser Erbgut gibt uns keinen Mechanismus, mit dem Alkohol fertigzuwerden“, sagt Greg Tungwenuk Nothstine, selbst ein erfolgreicher Sportler dieser Spiele, der als Präsident des „Sobriety Movement“ (Bewegung der Nüchternheit) seit 1988 gegen alarmierende Selbsmordraten, zerstörte Familien und alkoholsüchtige Neugeborene ankämpft. „Wir wollen unseren Menschen Hoffnung geben, vor allem den Kindern. Denn wenn die Kinder aufhören zu singen, wird unsere Volkskultur untergehen.“

Zumindest im Big-Dipper-Eisstadion, dem Schauplatz der Eskimo- und Indianer-Olympiade, ist Nothstines Botschaft auf fruchtbaren Boden gefallen. Jede/r zweite der 500 SportlerInnen hat sich den Button mit dem Slogan „Our Spirit — sober and strong“ ans Trikot geheftet.

Stocknüchtern geht es bei dem viertägigen Fest, das allabendlich gut 2.000 Zuschauer anlockt, allerdings nicht zu. Spätestens wenn eine der zahlreichen Tanzgruppen das Publikum zum Tanz aufs Parkett ruft und sich dann Hunderte zum Rhythmus der Trommeln bewegen, schwappt die Stimmung über und gerät der Zeitplan aus den Fugen.

Die Olympioniken von Fairbanks haben ihr Fest nie als eine rein sportliche Angelegenheit verstanden. Unter ihrem Emblem, dem Eisbär unter sechs zu einer Kette verbundenen Ringen, werden um die Wette Lachse zerlegt, traditonelle Parkas genäht und Muktuk — eine Eskimo- Spezialität — vertilgt.

Das ganze wird stets wohlwollend betrachtet von der „Königin der Olympiade“, die huldvoll von ihrem mächtigen Holzstuhl auf der Tribüne herunterlächelt und alljährlich neu gewählt wird. Damit enden allerdings schon die Gemeinsamkeiten mit sattsam bekannten Mißwahlen. Die Queen wird nämlich nicht wegen der Oberweite, sondern wegen der Schönheit ihrer Stammestracht und ihrer öffentlichen Beredsamkeit in kulturellen Fragen gewählt. Während sich die neue Queen über ein vierjähriges Stipendium der University of Alaska freuen darf, dankte die alte, Malinda Maher, mit einem Satz ab, der die Identitätssuche der ersten Nationen Amerikas beschreibt: „Einer unserer Füße steckt in Mokassins, der andere in Sportschuhen.“

Zur Ausübung ihrer sportlichen Disziplinen ziehen sich die Natives allerdings Sportschuhe bevorzugt an beide Füße. Und dann schleppen sie — beim Four Men Carry — vier Personen von zusammen 280 Kilogramm so weit die Füße tragen, balancieren auf extra eingefetteten schmalen Birkenstämmen und messen an den Ohren ihre Fähigkeiten, Schmerzen zu ertragen. Letztere Übung nennt sich „Ear pull“, und dabei legen sich zwei einander gegenübersitzende Kontrahenten einen festen Zwirn aus Robbenleder um je ein Ohrläppchen und versuchen nun — wie beim Tauziehen — den Gegner auf ihre Seite zu ziehen. Seit 1987 gibt es diese Disziplin — wie die meisten anderen — auch für Frauen.

Und geendet hat das Fest am Sonnabend weit nach Mitternacht traditonell mit dem „Knuckle Hop“, wobei sich die KandidatInnen, tierische Laute von sich gebend, robbenartig übers Parkett schleifen. Eine Sportart, die gegen fünf Uhr morgens imer öfter auch in deutschen Kneipen trainiert wird. Thomas Lindhorst