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Rad-Tifosi im Chiappuccino-Rausch

■ Claudio Chiappucci gewann die 13. Etappe der Tour de France/ Induráin in Gelb, Debakel für LeMond

Berlin (taz) — Luc Leblanc war nur noch ein Häufchen Elend. Völlig ausgepumpt, abwechselnd hustend und bitterlich schluchzend, hing der französische Meister im Zielraum der 13. Etappe der Tour de France am Hals eines Betreuers. Im vergangenen Jahr war er noch glorreicher Fünfter in der Gesamtwertung der Tour geworden und in diesem Jahr als frischgebackener Kapitän seines Castorama-Teams die größte Hoffnung der Franzosen auf einen der vorderen Plätze. Doch die brutale Alpenetappe ins italienische Sestrière geriet für Leblanc ebenso zum Alptraum wie für viele andere hochkarätige Fahrer.

Mehr als acht Stunden quälte sich das Gros der am Samstag morgen in St. Gervais gestarteten Pedaleure über die 254,5 Kilometer lange Strecke. Gleich nach dem Start ging es hinauf in 1.633 Meter Höhe nach Saisies, dann hinunter auf 750 Meter, hinauf auf den Cormet de Roselend (1.968 Meter), in rasender Abfahrt hinunter auf 1.000 Meter; dann der Aufstieg zum Dach der diesjährigen Tour, den Iséran (2.770 Meter); erneut hinunter auf 1.500 Meter, hinauf auf den Mont-Cenis (2.083 Meter); lange Abfahrt auf 500 Meter Höhe und schließlich, nach sieben Stunden unablässigen Strampelns bei sengender Hitze, die mörderischen letzten Kilometer ins 2.020 Meter hoch gelegene Sestrière. „So etwas Schlimmes bin ich noch nie gefahren“, war das Fazit des Geraers Jens Heppner, der einen großartigen 12. Rang belegte und in der Gesamtwertung auf Platz zehn vorrückte.

Es war der große Tag des kämpferischen Italieners Claudio Chiappucci. Bald nach dem Start setzte er sich an die Spitze, schüttelte einen Verfolger nach dem anderen ab, und 124 Kilometer vor dem Ziel war er allein. Im Stile des legendären Fausto Coppi, der vor vierzig Jahren eine Tour-de-France- Etappe nach Sestrière im Alleingang gewonnen und dabei seinem verhaßten Rivalen und Landsmann Gino Bartali zehn Minuten abgenommen hatte, erklomm Chiappucci mit wuchtigem Tritt Iséran und Mont-Cenis, als handle es sich lediglich um unwesentliche Bodenerhebungen. Die Rolle von Bartali hatte er offenbar Gianni Bugno zugedacht, mit dem ihn nicht gerade ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Als Chiappuccis Vorsprung fünf Minuten überschritt, wurde es Bugno zu bunt, und er nahm die Verfolgung auf. Sofort klebte Miguel Induráin, der sich bis dahin auf reines Abwarten verlegt hatte, am Hinterrad des Italieners, und bald gesellten sich noch Andrew Hampsten (USA) und Franco Vona (Italien) zu den beiden Hauptfavoriten dieser Tour.

Zügig machte das Quartett Boden gut, aber immer wenn Chiappuccis Vorsprung endgültig zu schmelzen schien, legte dieser wieder einen Zahn zu und setzte sich erneut ab. Beim Aufstieg nach Sestrière kam dann der vermutlich bitterste Augenblick dieser Tour für Gianni Bugno. Vona trat an, und nur Induráin konnte folgen, während sich Bugno bleich und sichtlich am Ende seiner Kräfte den Hang hinaufmühte. Chiappucci jedoch war auch für den Spanier nicht mehr einzuholen. Durch ein dichtes Spalier tobender Italiener strebte er „wie im Rausch“ (Chiappucci) dem Ziel entgegen. Und auf dem letzten Kilometer zeigte dann sogar Induráin, der das Gelbe Trikot vom zurückgefallenen Franzosen Pascal Lino übernahm, menschliche Züge. Auch er war nun fix und fertig, büßte ein wenig von seiner gewohnten souveränen Eleganz ein und mußte sich noch von Vona überholen lassen.

Die wahren Tragödien aber spielten sich weiter hinten ab. Der Leipziger Uwe Ampler hatte gewußt, warum er sich schon vor dieser Etappe von der Tour '92 verabschiedet hatte. Während sich Chiappucci im Ziel ausgiebig feiern ließ, kämpften etliche Fahrer darum, nicht dem Zeitlimit von 55 Minuten zum Opfer zu fallen und disqualifiziert zu werden. Da waren natürlich die Sprintspezialisten wie Museeuw, Jalabert, Ludwig und Abduschaparow, der zu spät kam und diese für ihn völlig verkorkste Tour beenden mußte, aber da waren auch Leute, die man eigentlich nicht so weit hinten vermutet hätte. Luc Leblanc, der vierzig Minuten nach Chiappucci kam, und vor allem Greg LeMond. „Zu wenig Berge“, hatte dieser vor der Rundfahrt genörgelt, doch dann wurde die erste schwere Bergetappe dem dreimaligen Tourgewinner bereits zum Verhängnis. 50 Minuten nach dem Sieger torkelte er durchs Ziel und gab nach dieser verheerenden Erfahrung die Tour 1992 auf. Matti Lieske

Gesamtklassement: 1. Induráin 63:34:54 Stunden, 2. Chiappucci 1:42 Minuten zurück, 3. Bugno 4:20, 4. Lino 7:22, 5. Delgado 8:47, 6. Stephen Roche (Irland) 9:13, ... 10. Heppner 13:01, 41. LeMond 50:53, 49. Bölts 57:58, 59. Krieger 1:07:20 Stunden zurück, 76. Kummer 1:24:30, 96. Ludwig 1:36:28, 117. Gölz 1:58:07, 140. Kappes 2:29:29

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