„Lotta continua“ bringt Justiz in Zugzwang

Zweideutige Manöver im italienischen Gericht wegen der Ermordung eines Polizeikommissars/ Adriano Sofri im Hungerstreik  ■ Aus Rom von Werner Raith

Seit einem Monat befindet sich der Journalist und ehemalige Ideologe der linken Studenten- und Arbeitergruppe „Lotta continua“, Adriano Sofri, im Hungerstreik. Grund: Der Prozeß, in dem Sofri Hauptangeklagter ist, wurde einer Kammer entzogen, bei der er alle Aussichten auf Freispruch gehabt hatte. Nun will Sofri das Oberste italienische Gericht zur Revision dieser Entscheidung veranlassen, die durch einen neuen Geschäftsverteilungsplan zustande gekommen war.

Bei dem Verfahren geht es um die Ermordung des Polizeikommissars Calabresi 1972. Ihn machte seinerzeit faktisch die ganze Linke zum Verantwortlichen für den Tod eines unschuldig verhafteten Anarchisten, der sich aus dem fünften Stock des Polizeipräsidiums in Mailand gestürzt hatte. In diesem Klima war wohl auch die Mordtat an Calabresi gereift.

Der Polizei gelang es jedoch nicht, Schuldige zu finden — bis 1988. Damals hatte ein bis dahin unbekannter Mitläufer der „Lotta continua“ sich selbst der Tat bezichtigt. Den Auftrag dazu, gab er an, hätten ihm Sofri sowie zwei weitere Führungsmitglieder der Organisation, Ovidio Bempressi und Giorgio Pietrostrefani, gegeben. Der Prozeß endete mit der Verurteilung der drei Angeschuldigten zu jeweils 22 Jahren. Der „Kronzeuge“ Marino, nach eigenen Angaben der eigentliche Killer, erhielt wegen seiner Aussagebereitschaft nur 16 Jahre. Die zweite Instanz bestätigte die Urteile.

Nun soll das Oberste Gericht das letzte Wort sprechen. Daß Sofri auf einen Freispruch hoffte, gründete sich vor allem auf die bisherige Philosophie des Ersten Senats, der mit der Urteilsüberprüfung beauftragt war. Dessen Vorsitzender Corrado Carnevale trägt inzwischen den Beinamen „Amazzasentenze“ (Urteilskiller). Reihenweise hat er in der Vergangenheit die Sprüche der unteren Instanzen aufgehoben — speziell solche, die sich ausschließlich auf „Kronzeugen“ stützen.

Doch der Richter hatte vor kurzem auch einige Mafia-Bosse freigesprochen. Der Druck auf das Obergericht wurde daraufhin so groß, daß man beschloß, einen neuen Geschäftsverteilungsplan einzuführen, der Carnevale bisherige Zuständigkeiten weitgehend entzieht. So geriet nun der Prozeß um die Ermordung Calabresis an den Sechsten Senat. Der jedoch fährt eine harte Linie und hält „Kronzeugen“ in der Regel für glaubwürdig. Da der neue Plan erst jetzt eingeführt wurde, der Erste Senat aber bereits monatelang an der Sofri-Revision gearbeitet hat, beurteilen dies viele Juristen als „Entzug des gesetzlichen Richters“.

Andere vermuten hinter der Neuverteilung politische Absichten, die auch schon während der ersten Verfahren unterstellt wurden. Denn Sofri ist besonders mit solchen Politikern befreundet, die mittlerweile zu Ministern oder hohen Entscheidungsträgern aufgerückt sind. Eine Verurteilung soll möglicherweise auch diese in Mißkredit bringen. So hat sich mittlerweile denn auch eine breite Allianz dagegen gebildet. Politiker und Intellektuelle aller Sparten, von Ex-Kommunisten über Grüne bis hin zu einzelnen Neofaschisten, fordern eine Rücknahme des höchstrichterlichen Beschlusses. Der Verdacht bewußter Manipulation erhielt aber auch durch einen jetzt veröffentlichten Briefwechsel zwischen Sofri und dem Vizepräsidenten des Gerichts neue Nahrung: Letzterer hatte darin einerseits die Neuordnung als „notwendig zur gleichmäßigen Arbeitsbelastung aller Sektionen des Gerichts“ bezeichnet, dann aber nicht zu erklären vermocht, welche Entlastung es bringen soll, wenn ein vom Ersten Senat bereits fast spruchreif bearbeitetes Verfahren nun von der Sechsten Kammer völlig von vorne aufgebaut werden muß.

Zusätzlich hat der vierundvierzigjährige Sofri die Lage noch durch einen bisher einmaligen Schritt kompliziert. Wie bereits vor dem Prozeß erster Instanz angekündigt, hat er auf jegliche Berufung und Revision verzichtet. Darum sind die gegen ihn verhängten 22 Jahre eigentlich bereits rechtskräftig. Dennoch sitzt er nicht ein. Da alle anderen Angeklagten Berufung einlegten, hat das Haftgericht beschlossen, Sofri so lange auf freiem Fuß zu lassen, bis eine letztinstanzliche Klärung des gesamten Verfahrens erfolgt. Dafür gab es allerdings keine Rechtsgrundlage, weshalb auch dieser Schritt Polemiken auslöste.

Damit nicht genug: Selbst wenn das Oberste Gericht nun die Urteile der Vorinstanzen aufhebt, müßte Sofri erst mal ein neues Verfahren anstrengen (Rechtskraft ist auch in Italien Rechtskraft). Genau das will er aber nicht tun. Ebenso, wie er keinen Gnadenantrag stellen will.

So könnte die skurrile Situation entstehen, daß die italienische Justiz einen Häftling hat, von dem höchstrichterlich feststeht, daß er unschuldig ist — von dem aber niemand weiß, wie er freigesprochen werden kann. Der einzig mögliche Schritt der Justiz wäre eine schlichte Bankrotterklärung, indem man Sofri freiläßt, obwohl es dafür keinerlei Verfahrens- und Rechtsgrundlage gibt.

Einen Teilerfolg hat Sofri mittlerweile immerhin erreicht. Nach einer neuen Entscheidung des Kassationspräsidiums sollen nun die Vorsitzenden aller neun Senate gemeinsam über das Verfahren entscheiden. Ein unerhörter Schritt, denn noch nie hat das Obergericht eigene Entscheidungen korrigiert. Sofri reicht das trotzdem bei weitem nicht aus. Er erkennt darin aber immerhin „das Eingeständnis des Hofes, daß seine ursprüngliche Entscheidung unzulässig war“. Über die Einstellung seines Hungerstreiks will er unter den derzeitigen Bedingungen noch nicht sprechen.

Inzwischen ist auch ein zweiter Verurteilter, Ovidio Bompressi, in Hungerstreik getreten, und weitere 170 Personen in ganz Italien tun es den beiden nach. Der Justiz Italiens stehen, so scheint es, keine sonderlich ruhigen Zeiten ins Haus.