Aufden Schwingen des Musenpferdes

■ Kai Stellmann, der Bremer Comic-händler, über Bücher, die nach neuen Möglichkeiten menschlicher Existenz suchen

Kai Stellmann, Comic-ExperteFoto: Jörg Oberheide

Ein Pferd fliegt durch das Fenster der Buchhandlung. Es ist Pegasus, aus dem Rumpf der griechischen Medusa entsprungen, nachdem Perseus ihr das Schlangenhaupt abgeschlagen hatte. Als Comic gezeichnet würde der alte Mythos vielleicht auf den Index kommen, denn ohne Blut und „Uaargh“-Schreie, ohne ein cooles „Da hast du es!“ wäre die Sache sicher nicht abgegangen.

Nicht deshalb hat Kai Stellmann seinem Laden den Namen Pegasus gegeben. Der steht eher für seine mystische Ader, für die Sehnsucht nach Phantasiewelten, die man nur mit einem „geflügelten Geist“ erreicht. „Normale Bücher interessieren mich nicht“,

sagt er, „Thomas Mann? Nie gelesen. Karl May? Nach einem Band war Schluß. Ich will Bücher, die nach neuen Möglichkeiten der menschlichen Existenz suchen.“

In Stellmanns Laden werden esoterische Sinnsucher bedient und Filmweltträumer, Science- Fiction-Fans, Stephen-King- Schwärmer und —last not least -

leidenschaftliche Comiclieb-

haber. Über 5.000 Comicalben hat das Pegasus im aktuellen Angebot, mindestens zehn mal soviel liegen im verwinkelten Kellerarchiv, Schätze, für die manche SammlerInnen einen Mord beginnen würden, uaargh.

Angefangen hat die Geschichte

der in ganz Deutschland renommierten Pegasus-Buchhandlung, mit einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit des Inhabers, das er mit vielen seiner AltersgenossInnen teilen mußte. Ende der 50er Jahre nämlich gab es die berüchtigte „Schmutz-und- Schund“-Kampagne, die bedrohte Jugendliche vor gefährlichen Comics bewahren sollte. „Für ein Kilo Comics gab's ein sogenanntes gutes Buch, und auf den Schulhöfen wurden Comicscheiterhaufen entzündet. Ich hab meine heimlich gekauften Hefte natürlich nicht abgegeben, aber eines Tages kam ich von der Schule nach Hause und meine Eltern hatten alle meine Sigurd- Hefte in der Heizung verbrannt! Ich bin ein Nostalgiesammler geworden und habe mir meine verbrannten Comics doppelt und dreifach zurückgeholt...“

Ab 1976 gab Stellmann das Fanzine „COM-MIX“ heraus, eine Anlaufstelle für alle gebrannten Comic-Kinder, die zu ihren Comics zurückfinden wollten. Mehr als 80 Ausgaben hatte „COM-MIX“, mal eine, mal 160 Din A 4 Seiten, bis Stellmann 1980 den „Blender“-Verlag gründete und einen Comicladen in der Humboldtstraße aufmachte.

In dem Verlag veröffentlichte er nicht nur Comicmagazine und Bildbände, sondern auch die „Phantastischen Comics zwischen Traum und Wirklichkeit“ seines Freundes Christoph Roos, und pornographische Krimis von J. Funke, die der „Sigurd“-be-

geisterte Junge damals vielleicht freiwillig seinen Eltern übergeben hätte... (Funkes „Mona C“ z. B. darf nur unter dem Ladentisch verkauft werden.)

Sein Laden, jetzt im Ostertorsteinweg, ist für Stellmann eine schöne Möglichkeit, seine Comicsammelleidenschaft endlich auszuleben: „Und die geht bei mir sehr weit. Wenn ich nicht verheiratet wäre, dann würde ich mir einen billigen Schuppen auf dem Land besorgen und eine Art Archiv aufmachen. Mir geht es gar nicht so sehr ums Verkaufen. Ich möchte einen Laden haben, bei dem jemand von den Osterinseln anrufen kann, um endlich irgendein vergriffenes Heft zu kriegen.“

Diesen Aussteigertraum verhindert nun vorerst noch sein 9-jähriges Töcherlein, das obendrein lieber „richtige Bücher“ liest. Zwei andere Mammut-Unternehmungen sind aber schon in Planung: eine Enzyklopädie aller greifbaren deutschsprachigen Comics, zu denen auch abseitige Publikationen in den vielen Fanzines gehören, und eine Enzyklopädie deutscher Fernsehserien der 50er und 60er Jahre.

Die Erstellung einer Comic- Enzyklopädie darf übrigens den einfachen KäuferInnen nicht helfen, auch solche Comics auffindbar machen, für die nach dem Willen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften keine Werbung gemacht werden darf. „Sicher gibt es jugendgefährdende Comics“, sagt Stellmann, „manche Comics sind sehr brutal und pornographisch. Aber Alben, die einmal auf dem Index gelandet sind, laufen Gefahr, für immer in der Versenkung zu verschwinden.“ Während allerdings Krakelsigurd seinem Feind noch nicht mal mit diffusen Strichen das Messer in die Brust stoßen durfte, ohne für immer unterm Ladentisch zu verschwinden, müssen heutige Comic-Helden schon deutlich erkennbar foltern, um mit Sigurd die Ehre der Indizierung zu teilen.

Auch ohne die indizierten Titel ist es für Comic-Laien nicht leicht, den ausgetretenen Pfad von Tim und Struppi, Asterix und Lucky Luke zu verlassen, ohne sich im Bilderdschungel zu verlieren. Kai Stellmann will keine Ratschläge geben, aber es gibt ja Pegasus, das geflügelte Musenpferd. Pegasus hat einen breiten Rücken. Man muß nur wagen, im Fluge aufzuspringen. Cornelia Kurth