IM WESTEN WAS NEUES Von Mathias Bröckers

Seit ein polnisches Ehepaar den Zeitungsladen gegenüber wieder eröffnet hat, hat sich unsere Lebensqualität spürbar gesteigert: zur Versorgung mit den täglichen Suchtstoffen (Zeitungen, Zigaretten, Süßigkeiten) muß man nicht mehr um die Ecke, sondern nur noch übern Damm. Weil ich ohne Zeitung nicht frühstücken kann, hat der kurze Weg aber auch einen kleinen Nachteil: kaum aus dem Bett, steht man plötzlich in einem Laden und muß Geschäftstüchtigkeit simulieren. Der Zeitungshändler ist seit 6 Uhr zugange, also schon frisch und munter für ein Schwätzchen. „Wissen Sie, was wir bald kriegen?“ meinte er gestern, während ich noch halb dösend nach Kleingeld krame, „Wir kriegen bald den Sozialismus!“ Wie? Was? Nicht, daß ich schlagartig wach werde, aber das hört sich doch gut an: „Wie kommen Sie denn da drauf?“ brummele ich — „Marx“, sagt er, „hat sich nicht unbedingt geirrt, als er geschrieben hat, daß der Kapitalismus irgendwann von selbst in den Sozialismus übergeht, nur ist er überall in den armen Ländern gekommen, die noch gar keinen richtigen Kapitalismus hatten. Da geht er jetzt überall kaputt, aber hier fängt er an — und zwar von oben, vom Staat aus. Ich habe beide Systeme genau beobachtet, in Polen von oben, als Ökonom und Ingenieur, und hier von unten, als Zeitungshändler — und es passiert dasselbe. Nehmen Sie die zwei hier oben im Haus, keine 30 Jahre, keine Arbeit, Alkoholiker, die werden nie mehr in ihrem Leben etwas arbeiten. Davon gibt es Millionen in Deutschland. Was soll der Staat mit ihnen machen? Er muß wie die sozialistischen Staaten vorgehen, Arbeit von oben schaffen, Mindestrente und solche Sachen — der Kapitalist von sich aus macht das nicht. Die lassen ja jetzt schon ihre Sachen in Thailand oder sonstwo produzieren — hier wird doch keine einzige neue Fabrik geöffnet, weil es viel zu teuer ist...“ Das Kaffeewasser verkocht, außerdem herrscht im Laden ungemütlicher Betrieb, wir beschließen, die Sozialismusfrage ein anderes Mal weiterzudiskutieren. Beim Frühstück dann ein Bericht über die jüngsten riots in Manhattan, L. A. War also nur ein Anfang — kommt der Sozialismus etwa als erstes in den USA? Der Gedanke entbehrt nicht einer gewissen Logik — das Mutterland des modernen Kapitalismus setzt auch in der Krise die Trends: es ist vom allgewaltigen Gläubiger zu größten Schuldner der Welt abgestiegen. Und Europas „Finanz-Riese“ Deutschland folgt. Wenn aber das Weltschulden-Karussel auseinanderfliegt, das globale Geldsystem kracht, wird ein solcher Run auf Grund und Boden einsetzen, daß den Staaten nur eines bleibt: Verstaatlichung und Vergabe in Erbpacht. Sowie ein neues, zinsloses Geldsystem, das aus Geld wieder einen stabilen Maßstab des Tausches macht, indem es seine Eigenschaft als Mittel der Schatzbildung, und damit die Ursache von Inflation und Zinsknechtschaft, ausschaltet. Schon hätten wir einen Sozialismus der Dritten Art: er beruht auf einer vom Kapitalismus befreiten Marktwirtschaft. Silvio Gesell, Finanzminister der Münchner Räterepublik, hat das System im Detail beschrieben — daß seine Amtszeit von zehn Tagen nicht ausreichte, es zu realsisieren, sollte man ihm nicht länger verübeln. Stell Dir vor, man hätte meinen Zeitungsmann schon früher gehört, schnell das Grundgesetz geändert, den Boden des gesamten „Beitrittsgebiets“ verstaatlicht und fortan nur noch in Erbpacht vergeben — Kohl würde noch 2010 regieren!