piwik no script img

Überbordend und rasant

Neue Literatur aus Venezuela: „Das Haus der Tugenden“  ■ Von Petra Kohse

Man taumelt von Bild zu Bild, versucht vergeblich, eine der unzähligen Geschichten festzuhalten und läßt sich schließlich einfach treiben in diesem Geflecht sich unausgesetzt vermehrender Handlungsstränge. Die Perspektiven wechseln mit jedem Lidschlag, und schon nach wenigen Seiten ist man gefangen im Netz gleichermaßen realistischer wie magischer Ereignisse.

Cristina Policastro, 1956 in Venezuela geboren, arbeitet als Journalistin bei Radio Caracas. „La casa de las virtudes“ ist ihr erster Roman, der in der deutschen Übersetzung von Anneliese Schwarzer noch vor der Originalausgabe jetzt im Peter Hammer Verlag erschienen ist. Zuvor veröffentlichte Policastro einige Erzählungen. Nur eine einzige ist hiesigen Lesern bisher zugänglich: in der neuesten Ausgabe von Lettre International ist „Tempel des Krieges“ abgedruckt. In diesem (von Maralde Meyer-Minnemann übersetzten) Text beschreibt Policastro die erotischen Phantasien eines äußerlich unbewegten Wachsoldaten und thematisiert darüber die direkte Abhängigkeit männlicher Kampflust von der Sexualität.

Doch zurück zum „Haus der Tugenden“. Zunächst, in dürren Worten, die Haupthandlung: der populäre venezolanische Schriftsteller Jacobo Dalton erhält den Nationalpreis für Literatur, lernt die Hure Sophisma kennen, trennt sich von seiner Freundin Helena und schreibt einen großen Roman. Von diesem Erzählstrang ausgehend werden strahlenförmig, ohne Rücksicht auf Chronologie und mit wachsender Eigendynamik, Nebenhandlungen, Vor- und Rückblenden entwickelt:

Da ist Jacobos Vater Gregorius, ein Engländer, dessen hochschwangere Frau Marina bei einer Hexe Rat suchte. Die Hexe tötete die junge Mutter und behielt das Kind, Jacobo, bis zu seinem fünften Lebensjahr bei sich. Jetzt liegt sie im Sterben und schreit nach ihm, tage- und wochenlang: eine letzte Machtprobe der alten Zauberin. Tatsächlich beginnen in Jacobo die bis dahin verdrängten Erinnerungen an den frühesten Teil seiner Kindheit wachzuwerden.

Der tote Körper seiner Mutter Marina, der auf ein Feld außerhalb des Dorfes geschafft wurde, hatte noch einen zweiten Sohn geboren, Jacobos Zwillingsbruder. Ohne menschliche Hilfe bahnte er sich seinen Weg auf die Welt und lebt nun zwischen den Blumen, die auf Marinas Grab wachsen.

Magische Kräfte hat auch Sophisma aus dem „Zauberei“ genannten Bordell, in das es Jacobo immer wieder zieht. Sie spricht mit den Stimmen Toter und sieht in die Zukunft. Mit all der ihr zur Verfügung stehenden Macht will sie den Schriftsteller an sich binden und schreckt auch vor einem Attentat auf Helena nicht zurück. Überhaupt Helena. Sie gibt sich zuweilen als Erzählerin aus und ist die einzige weibliche Figur, die nicht in Jacobos Leben einzugreifen imstande ist.

Ansonsten wird der eigenbrödlerische Erfolgsautor in mysteriöser Abhängigkeit von diversen Frauen gezeigt: Da ist Alicia, vielleicht die aus dem venezolanischen Wunderland, die frühere Geliebte Eloisa mit dem Hang zur sexuellen Perversion, und nicht zuletzt die Puffmutter Sabrina, die Jacobo vor vielen Jahren entjungferte und sich für die Großmutter seines noch ungeborenen Kindes mit Sophisma hält. Zwischen all diesen Begegnungen geht Jacobo seinen Pflichten als geschäftstüchtiger Buchautor und als literarisches Aushängeschild Lateinamerikas nach.

Die Aufzählung der Geschichten und ihrer Querverbindungen muß unvollständig bleiben. Erzählt wird vom Alltag venezolanischer Mittelstands-Intellektueller und dem Triebleben der Landbevölkerung, von Sex und Geld, von Mythen und Magie, von Neid und Erfolgsdruck, vom Schicksal, der Politik und immer wieder — vom Erzählen selbst.

Policastro führt eine ich-erzählende Figur nach der anderen ein, wechselt zur auktorialen Haltung, um sich kurz darauf auf eine Zwiesprache mit ihren literarischen Geschöpfen einzulassen oder deren Tun und Denken spöttisch zu kommentieren. Dann wieder überschwemmt der Erzählfluß jegliche Perspektive, die Autorin springt quer durch die Zeiten und Räume, scheint nicht daran interessiert, die Teile zu einem Ganzen zu summieren, und nimmt das Ende der Geschichten vorweg, ohne sie eigentlich zu Ende zu erzählen.

Die phantastische Schwüle lateinamerikanischer Erzähltraditionen verbindet sich im „Haus der Tugenden“ mit der kühlen Bestandsaufnahme collagierter Stadtprosa, wobei Inhalte zwar nur skizziert werden, die rasante und überbordende Sprache den dissoziierenden Handlungselementen aber dennoch zu einer atmosphärischen Einheit verhilft — ein stroboskopischer Effekt, der geradezu ein neues Genre kreiert: den magischen Zeitgeist-Roman.

Cristina Policastro: „Das Haus der Tugenden.“ Aus dem Spanischen von Anneliese Schwarzer, Peter Hammer Verlag, 1992, 163Seiten, 28DM.

Cristina Policastro: „Tempel des Krieges.“ Aus dem Spanischen von Maralde Meyer-Minnemann, in: „Lettre International“ (deutsch), Heft17, Sommer 1992, 13DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen