Der Ort des Begehrens

■ Die Philosophie der Maria Zambrano: „Waldlichtungen“

Mystik ist, wie gewaltsam ihre Phantasmagorien auch immer, Liebesmystik. Sie beschreibt den Tanz und den Taumel des Körpers in der Nähe der Wahrheit. Aber wo ist das hin, heute, dieses Gedächtnis? Abgewandert in die Psychoanalyse, die Literatur und natürlich in die Philosophie, wo die beamteten Hüter der Erziehung alles tun, um es zum Schweigen zu bringen. Bis auf Ausnahmen, die als typisch französisches Denken — das heißt eines, das wie die Psychoanalyse ständig DAVON, dieser B-Seite der Räson spricht — ständigen Erklärungen, Er-läuterungen, Reinigungsritualen ausgesetzt werden, damit wieder ein vernünftiger und akademisch verständlicher Diskurs daraus wird.

Und bis auf solche Ausnahmen, die irgendwie als „philosophisch-poetische“ Texte deklariert werden, ohne daß man selbst nach dem Lesen eigentlich genau weiß, wovon sie gehandelt haben. Texte wie die von Beckett, Blanchot, Ponge oder wie dieses Buch hier von Maria Zambrano: „Waldlichtungen“. Ein Buch ohne Leser, ein Buch, das ganz leer wirkt, mit einfachsten, transparenten Bildern auskommt und doch überhaupt nichts erklärt. Mancher mag hineinschauen, philosophisch neugierig, und es dann enttäuscht abtun: „Das ist ja ein weiblicher Heidegger; Lichtung, Abgrund, Physis, Sein und der ganze Quark nochmal poetisch aufgegossen!“ Ja, das stimmt, ein weiblicher Heidegger, ein weiblicher Ortega y Gasset, ein weiblicher Platon, ein weiblicher Parmenides: die ganze abendländische Tradition des Denkens, die an ihren eigenen Mystizismus der Erkenntnis erinnert wird, von einer Frau, die fast wie eine moderne Mystikerin geschrieben hat.

Von einer Frau, die das Denken wie einen körperlichen Akt vorstellt, es als einen Vorgang von Atem, Herz, Rhythmus beschreibt, der jegliche Selbstsicherheit suspendiert und seine Kraft aus dem Eintreten des Unerwarteten bezieht, den Momenten einer mystischen Sicht, wo die Zeit „sprunghaft vergeht“ und „Lücken aus Zeitlosigkeit hinterläßt in Wellen, die sich verlaufen, in Augenblicken wie Funken eines fernen Feuers. Und dem, was ankommt, fehlt das, was anzukommen sich anschickte, und dem, was ankam, das, was unvermeidlich verlorengeht. Und das, was kaum gesehen oder erahnt, sich verbirgt, ohne daß man wüßte wo, noch ob es einmal wiederkehrt; diese kaum in der Luft geöffnete Furche, dieses Zittern einiger Blätter, der unbemerkte Pfeil, der trotzdem die Spur seiner Wahrheit in der Wunde hinterläßt, die er öffnet...“

Maria Zambrano entwirft nicht eine Philosophie des Begehrens, sondern eine begehrende Philosophie: Sie erinnert an die Suche nach der Einheit, aus der die Sprache und das Denken hervorgehen, aber sie insistiert auf der Unmöglichkeit, diese Einheit in Besitz zu nehmen, sie wie einen Gegenstand zu verwalten. Jedes wahre Wort ist eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage, es ist eine „Gabe des Exils“. Es wäre daher sinnlos, einer Methode oder einem System folgen zu wollen, denn das Denken ist kein Werkzeug. Es ist dort, wo es der Sprache begegnet, Gesang, Gedankenmusik, eine Liturgie der Seele.

Man könnte hier über die Katholizität der Spanierin Maria Zambrano spekulieren; über die Nähe ihres Philosophierens zum Gebet, eines sprudelnden, zögernden, kreisenden Sprechens über „das Sein“, das sich in die Vielfalt der Bilder auseinanderlegt und doch verborgen bleibt. Man würde ihr so einen Ort im Kanon der Geschichte geben. Aber das hieße auch, den Ernst dieses Denkens zu verkennen.

Wer Ohren hat zu hören, wer den Text so lesen will, der hört tatsächlich zahllose Echos aus der philosophischen Überlieferung widerklingen. Tatsächlich beschreibt Maria Zambrano die Phantasmagorie des Philosophen, den Traum und das Gespenst, dem er nachläuft. Sie spricht von dem Ort aus, der die Obsession der diskursiven Vernunft ausmacht und gleichzeitig ihre Subversion bedeutet: von dem Ort des Begehrens nach der reinen, unvermittelten Erkenntnis, die der Liebe und dem Genuß der Liebe gleich ist. Und sie doch immer wieder nur verspricht, aufschiebt, wie die Präsenz des Weiblichen selbst. So tut sich im Sprechen dieses Textes immer wieder eine andere Szene auf: die Szene einer Andersheit, auf dem sich das Sprechen eines anderen Begehrens als das der Philosophen abspielt. Hans-Werner Zerrahn

Maria Zambrano: „Waldlichtungen.“ Aus dem Spanischen von Gerhard Poppenberg, Suhrkamp, 1992, 185Seiten, 36DM.