Die vollkommene Leere

■ Innenansichten aus der Welt der beratenden Politikwissenschaft/ Was als Problemanalyse daherkommt, ist selbst Teil der „Krise“

Eine Krise der Parteien und Parteienverdrossenheit registriert man in der Bundesrepublik schon lange. Seit der in Buchform veröffentlichten Suada des Bundespräsidenten v. Weizsäcker hat sich jedoch der Akzent dieser Diagnose merklich verschoben. Vor zwei Zeit-Journalisten, die dem Bundespräsidenten andächtig lauschten, hat dieser in der Tat eine Form der Parteienkritik salonfähig gemacht, die alle Züge autoritärer Politikfeindschaft à la 50er Jahre trägt. Insofern könnte ein Buch von Interesse sein, das mit dem Titel „Die Politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand“ daherkommt und eine ganz nüchterne Bestandsaufnahme des politischen Personals dieser Republik zu versprechen scheint.

Nur leider, genau dieses leistet das Buch nicht. Auf über 400, zum weitaus größten Teil unerträglich redundanten Seiten breiten sich Politiker, ihre Berater vorwiegend der zweiten Garde sowie bewährte sozialdemokratische Etappenschreiber wie Thomas Meyer oder Norbert Seitz, der vor allem die Vorteile der „Cut and Paste“-Taste moderner Textverarbeitungen vorführt, zum Thema aus. Wenn man sich bis ans Ende durchgequält hat, dann bleibt eigentlich nur der Schluß: Das Buch ist selbst ein Teil des Problems, das es zu analysieren vorgibt.

Angefangen bei der Klärung des Begriffs „politische Klasse“ wird ausgehend vom Erfinder, dem Italiener Gaetano Mosca, der Begriff selbst hin- und hergewendet. Im leeren Jargon einer Politikwissenschaft, der jegliche philosophische oder konzeptionell gehaltvolle Idee von Demokratie abhanden gekommen zu sein scheint und die Namen wie Kant, Hegel und Rousseau allerhöchstens noch zum Auffüllen der Fußnotenapparate kennt (Ausnahmen die Aufsätze von Gerhard Göhler über die Idee der Repräsentation und Dietrich Herzog über die politische Klasse im Sozialstaat), wird nach eindeutigen Definitionen des Begriffs gesucht und vor allem das empirische Defizit der Elitenforschung beklagt.

Fast kann man sie mit den Händen greifen, die Anträge auf Fördermittel bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Parteistiftungen und ähnlichem, die sich zum Beispiel hinter den Beiträgen von Ansgar Klein oder Wilhelm Weege abzeichnen. Auf die naheliegende Idee, den sehr viel weniger „ideologischen“ — oder wenn man so will: mit scheinbarer theoretischer Distinktion befrachteten — Gebrauch des Begriffs „politische Klasse“ in den romanischen Ländern, wo er ja herkommt, in Augenschein zu nehmen, ist niemand gekommen. Die Italiener und Franzosen verwenden den Begriff recht pragmatisch, vor allem um pathetische und falsche Namen wie „herrschende Klasse“ oder „Machthaber“ etc. pp. zu vermeiden. Er bezeichnet bei ihnen diejenigen, die von der und für die Politik leben, also auch jene, die öffentlich nie oder nur im Hintergrund in Erscheinung treten. Schön eingeteilt in Abschnitte kommen in dem Buch auch die Praktiker der Politik zu Wort wie Wolfgang Schäuble, Warnfried Dettling, Hans-Jochen Vogel, Inge Wettig- Danielmeier, Antje Vollmer und, in Interviews, Björn Engholm sowie die Grünen-Vorständlerin Christine Weiske. Das Schlußwort stammt von Peter Glotz. Das hätte ein interessanter Wettkampf, wenn schon nicht der Matadore, so ihrer Referenten und Redenschreiber werden können. Wurde es aber nicht. Aus Björn Engholms Pfeife steigen die Rauchkringel auf, die man seit je schon kennt, Hans-Jochen Vogel kommt zu dem bemerkenswerten Schluß: „Auch die Demokratie kann ohne Eliten nicht funktionieren“, Wolfgang Schäuble belehrt uns, daß politische Führung auch emotionale Bezüge sehen müsse, sonst bestehe die Gefahr, „daß die Verbindung zwischen Führung und Bevölkerung abreißt“.

Sorgfältig haben die Herausgeber darauf geachtet, möglichst alle Bereiche abzudecken: also alle Parteien, das Verhältnis Jung-Alt, Ost- West, Mann-Frau. Ist ja auch wichtig für eine „Eliten-Theorie“.

Es ist sicher nicht ungerecht, wenn man das Buch, das von Karl- Heinz Blessing der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, dem nach Grün hin offenen Umfeld der Sozialdemokratie zuordnet. Und es ist, wie einleitend bereits angedeutet, selbst ein Bestandteil des Problems, das es zu analysieren will. Fast durchgehend nämlich erscheint die „Krise“ des politischen Systems der BRD — und auch die verdiente es durchaus, näher bezeichnet zu werden — als Problem der Partizipation an und der Durchlässigkeit hin zur Politik respektive den politischen Eliten. Dabei gerät aus dem Blick, daß das eigentliche Kernproblem der Parteiendemokratie die Gefahr ist, den Bürger um die Sphäre der Politik zu enteignen, das heißt die Verapparatung der politischen Repräsentation. So kommt auch niemand auf die Idee, das Verhältniswahlrecht in der BRD als Ursache für die Stärke der Parteiapparate (und — möglicherweise, aber das wird sich noch erweisen müssen — Labilität des politischen Systems) unter die Lupe zu nehmen und mit dem Mehrheitswahlrecht britischen Musters zu vergleichen, das auf jeden Fall dem einzelnen Abgeordneten ein stärkeres Gewicht geben würde. Repräsentation ist andererseits unabdingbar, will man nicht die totale Verpolitisierung des gesamten Lebens, sondern daran festhalten, daß sich die Qualität einer Demokratie daran zu bemessen hätte, daß demjenigen, der sich für Politik nicht interessiert, aus dieser Haltung kein gesellschaftlicher Schaden erwächst.

In der Tendenz dieses Buches dagegen liegt eigentlich ein anderer Schluß, nämlich die Bereiche der Gesellschaft, die nicht zum Feld der Politik gehören, wie Beruf, Arbeit, Freundschaft etc. als Vorfelder des Politischen zu sehen und sie so gewissermaßen dem Politischen anzuschließen, als Rekrutierungsfelder neuer Mitglieder der Eliten. Diese Optik macht blind dafür, daß Demokratie vor allem auf der Übernahme von Verantwortung durch den einzelnen (Bürger) beruht. Wenn Demokratie schlecht ist, dann liegt — in einer nicht autoritären Sicht — die Schuld daran gewiß nicht nur bei den Parteien, sondern auch bei den Bürgern, die sich mit diesem Zustand zufrieden geben.

Nichts, was in den analytischen Abschnitten dieses ausgesprochenen „Schnellschusses“ mit großem verbalen Aufwand „entfaltet“ wird, das Klaus-Peter Siegloch in seinem monatlichen ZDF-Politbarometer nicht gleichwertig — und kürzer! — formulieren würde. Wenn das Buch also in theoretischer Hinsicht kaum interessant ist, dann vielleicht schon im Sinne der Bestandsaufnahme des geistigen Inventars und der mentalen Gewohnheiten, mit denen vor allem das „denkende“ Umfeld der SPD kommende Herausforderungen für die Politik zu bewältigen gedenkt. Ulrich Hausmann

Thomas Leif/ Hans-Josef Legrand/ Ansgar Klein (Hrsg.): „Die Politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand“, Bonn- Berlin 92, Bouvier Verlag, 36 DM