Die menschliche Natur und der 20. Juli

■ Gedenkveranstaltung zum Attentat auf Hitler mit Minister Schäuble und der Ostberliner Bürgermeisterin Christine Bergmann

Berlin (taz) — Wer heutzutage vor Fernsehkameras über den deutschen Faschismus redet, der will vom deutschen Sozialismus nicht mehr schweigen. Auch gestern, während der Gedenkveranstaltung zum 48. Jahrestag des mißglückten Attentates auf Hitler, zogen die Rednerin und der Redner Parallelen zwischen beiden „totalitären" Regimes. Vor einigen hundert Gästen, darunter Stolpe, Gysi und Gauck sowie Honoratioren der deutschen, englischen, französischen und amerikanischen Armee, und Angehörigen der ermordeten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, sprachen die Berliner Bürgermeisterin Christine Bergmann (SPD) und der Vorsitzende der Unionsfraktion, Wolfgang Schäuble. Die Veranstaltung wurde in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Berliner Stauffenbergstraße abgehalten. Im Innenhof des ehemaligen Wehrmachtsgebäudes waren seinerzeit einige Verschwörer des 20. Juli erschossen worden.

Bergmann bemühte sich um einen Vergleich, „ohne Parallelen überstrapazieren zu wollen“. Auch das Überleben des DDR-Regimes hing vom stillschweigenden Dulden der meisten Menschen ab, sagte sie. Am Ende aber habe der kollektive Mut gesiegt — Zivilcourage sei deshalb ein Vermächtnis der WiderstandskämpferInnen im Nationalsozialismus. In ihrer Rede hatte die Ostberlinerin den kommunistischen Widerstand erwähnt — Schäuble tat dies in der seinen nicht. „Ich warne vor selbstgerechten Urteilen über die Menschen und ihr Verhalten in vierzig Jahren SED-Herrschaft.“ erklärte Schäuble. Hätten die Westler nicht das Glück gehabt, „im freien Teil unseres Vaterlandes aufzuwachsen“, dann hätte es „einige wenige Tapfere gegeben, ein Teil wäre geflohen, und der Rest hätte sich angepaßt.“ Die Menschen seien in ihrer Mehrzahl keine geborenen Widerstandskämpfer oder Märtyrer. „So ist die menschliche Natur. Wer das bestreitet, weiß wenig davon,“ sagte Schäuble weiter.

Weder Bergmann noch Schäuble haben in ihren Beiträgen den deutschen Faschismus und den realen Sozialismus gleichgesetzt; die Trennschärfe ging aber im Wort vom „totalitären Regime“ verloren. Nicht nur Gregor Gysi entdeckte im Anschluß an die Veranstaltung eine Rhetorik á la „Man darf das nicht vergleichen, aber...“. „Ich hab Schäuble gesagt: darüber müssen wir noch mal reden!“ sagte Gysi der taz. „Leichenberge sind schließlich was anderes als Aktenberge!“ Die Gedenkfeier war mit militärischen Ehren abgehalten worden; auch eine Kapelle der Bundeswehr hatte aufgespielt. Einer Gruppe von Kriegsdienstgegnern, die vor dem Eingang Transparente entfaltet hatte, gefiel das nicht. „Jeder sucht sich die Helden, die er braucht“, war auf einem Plakat zu lesen. Vor drei Jahren hatte es zur Eröffnung der ständigen Ausstellung in der Gedenkstätte einen Eklat gegeben: Angehörige von Widerstandskämpfern des 20. Juli hatten dagegen protestiert, daß auch die Gruppe Ulbricht mit dem Prädikat „Widerstandskämpfer“ versehen worden war. Die Ausstellungsleitung setzte sich damals durch, die Gruppe Ulbricht gehört auch in der Stauffenbergstraße zur Tradition des deutschen Widerstands. Für entscheidend hielten die Historiker nicht, wer wen für einen Helden hält, sondern wer wann gegen das Hitler-Regime gekämpft hat. Diese Definition hätten die Demonstranten besser beherzigt, bevor sie mit Plakaten auf ihre Anti-Helden losgingen. ccm