Die Stimme mit der Autorität eines Auschwitz-Überlebenden war unüberhörbar

■ Mit unerbittlichem Impetus gegenüber der deutschen Öffentlichkeit verteidigte der jahrzehntelange Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin sein Lebenswerk: die Einheitsgemeinde

Heinz Galinskis Leben ist ein Abbild dieses Jahrhundert. Am 29. November 1912 wird er in der alten westpreußischen Ordensstadt Marienburg geboren. Auch die Juden dort fühlen national. Sein Vater ist Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges und bezahlt seine Liebe zu Deutschland mit achtzigprozentiger Schwerbeschädigung. Im ostpreußischen Elbing besucht er das humanistische Gymnasium und beendet 1933 eine kaufmännische Lehre. In den dreißiger Jahren arbeitet er in Rathenow (Havel) beim Kaufhaus Conitzer & Söhne als Textilverkäufer. Kurz nach Erlaß der Nürnberger Gesetze wird er in dem kleinen Havelstädtchen in Schutzhaft genommen; er ist mit einer Nichtjüdin befreundet. Die Freundschaft zerbricht.

Nach der Reichspogromnacht im Jahre 1938 ziehen er und seine erste Frau Gisela zu den in Berlin lebenden Eltern. Die Großstadt bietet mehr Anonymität. Für eine Auswanderung hat die Familie kein Geld, den Rat unterzutauchen ignorieren sie. 1940 verplichten die Nazis ihn, seine Frau und die Mutter zur Zwangsarbeit. Sie arbeiten als Kulis im Tiefbau und bei Siemens. Am 13. Februar 1943 wird die ganze Familie verhaftet. Der Vater stirbt auf der Polizeistation des Jüdischen Krankenhauses in Berlin, die Mutter, seine Frau und er werden nach Auschwitz deportiert. An der Rampe sieht er seine Familie zum letzten Mal. Er selbst wird von der SS zur Sklavenarbeit für die IG Farben in Buna (Auschwitz III) abgeordnet.

Das Grauen der Lager, der tägliche Überlebenskampf hatten aus Heinz Galinski einen harten Mann gemacht

Als die Rote Armee nach Krakau gelangt, wird Galinski ins Lager Gleiwitz gebracht. Von dort geht es in wochenlanger Fahrt in offenen Viehwagen in den Harz, in das KZ Mittelbau-Dora. Hier wurden in unterirdischen Stollen die V-Waffen montiert. Kurz bevor die Amerikaner Thüringen erreichen, werden die jüdischen Zwangsarbeiter nach Bergen-Belsen verschleppt. Dort wird Galinski am 19. April 1945 von den britischen Truppen befreit. Das Grauen in Auschwitz, der Kampf um das tägliche Leben, die jahrelange Entwürdigung haben Galinski zu einem harten Mann gemacht. Unmittelbar nach seiner Befreiung geht er wieder nach Berlin, in eine Stadt, deren äußeres Erscheinungsbild der vollständigen Auflösung gesellschaftlicher Formen entspricht. Die in Berlin untergetauchten, aus den Konzentrations- und displaced-persons-Lagern kommenden Juden sind krank an Körper und Seele. „Wenn mein Überleben einen Sinn haben soll“, begründet er später sein Engagement, „dann ist es, diesen Menschen zu ermöglichen, schnellstens nach Israel oder Amerika auszuwandern.“

Nur deshalb wird schon 1945 die Jüdische Gemeinde zu Berlin wiederbegründet, gedacht nur als Übergangshilfe. „Liquidationsgemeinde“ heißt sie dem Zweck entsprechend und hat bald etwa 7.000 Mitglieder, eine Zahl, die erst durch die jüdische Emigration aus der Sowjetunion 1990 wieder erreicht wird.

Von Anfang an ist Galinski, der den liberal-jüdischen Block in der Repräsentantenversammlung mitbegründet, in dieser Liquidationsgemeinde aktiv. Ihr Sitz ist im sowjetisch besetzten Teil Berlin-Mitte. Der Arbeitstag des jungen Sozialdezernenten dauert vierundzwanzig Stunden. Wohnungen müssen besorgt, Sozial- und religöse Einrichtungen neu begründet, die Lebensmittellieferungen des American Jewish Joint Distribution Committee verteilt und Auswanderungspapiere beantragt werden. Außerdem wird Galinski stellvertretender Leiter der Abteilung Nürnberger Gesetze beim Hauptausschuß „Opfer des Faschismus“ im Berliner Magistrat.

Als der Gründungsvorsitzende Hans Erich Fabian im April 1949 in die Vereinigten Staaten emigriert, übernimmt er die Leitung der Berliner Gemeinde. Unter seiner Führung und vor allem nach dem Auszug der Juden aus der sich antisemitisch und antizionistisch gebärenden DDR zu beginn der fünfziger Jahre, verwandelt sich die Liquidations- allmählich in eine Aufbaugemeinde — gegen den Widerstand sämtlicher internationaler jüdischer Organisationen und trotz der Ächtung durch Israel. Bis Mitte der sechziger Jahre betritt kein Rabbiner aus Israel deutschen Boden. Finanziert werden die sich entwickelnden Sozialeinrichtungen mit dem Verkauf von ehemaligem Gemeindebesitz und anscheinend herrenlosem jüdischen Eigentum durch Instanzen wie etwa die Claims Conference. Erst seit dem Staatsvertrag zwischen der Jüdischen Gemeinde und dem Land Berlin von 1971 erhält die Gemeinde jährliche Zuwendungen. Zuletzt für etwa 8.000 Mitglieder um 4,2 Millionen Mark pro Jahr.

„Der Mensch ist erst tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist“

Heinz Galinski hat mit ungeheurem Durchsetzungsvermögen die Berliner Gemeinde zur größten in ganz Deutschland gepuscht. Er forcierte den Neubau des Gemeindezentrums in der Fasanenstraße, die Eröffnung einer Jüdischen Volkshochschule. Unter seiner Ägide wurden der jüdische Kindergarten, die Grundschule, demnächst auch eine Oberschule gegründet. Seine zweite Frau Ruth leitet ebenfalls seit fast zwei Generationen die Frauenarbeit.

Kurz nach dem Fall der Mauer und der Vereinigung der Jüdischen Gemeinden in Ost und West beginnt Galinski, die Gründung eines neuen jüdischen Zentrums im traditionellen Viertel Berlin-Mitte voranzutreiben. Und er kümmert sich aktiv um die Integration der jüdischen Einwanderer aus der Sowjetunion. Daß die dreitausend bis November 1991 aus der zerfallenden Sowjetunion nach Deutschland geflüchteten Juden hier den Status von „Kontingentflüchtlingen“ erhielten und damit deutschen Staatsbürgern fast gleichgestellt sind, ist auch seinem Engagement zu verdanken. Aus Israel hat er sich deshalb viel Kritik gefallen lassen müssen. Als einen Höhepunkt seines Lebens nannte er die Tagung des Jüdischen Weltkongresses 1990 in Berlin. Er begriff sie als Anerkennung seines Engagements: Juden können in Deutschland wieder leben.

All das ist ein Lebenswerk von Bestand, auch von seinen Gegnern anerkannt. Bloß geliebt hat ihn fast keiner. Zu autoritär war sein Führungsstil, zu preußisch die Selbstdisziplin, die er auch allen anderen abverlangte. Neben Heinz Galinski konnte sich keiner profilieren. Einen kompetenten Nachfolger gibt es nicht. Der innerjüdischen Opposition im Zentralrat der Juden und noch krasser in der Berliner Gemeinde wurde die Luft abgedreht. Sie war und ist immer einflußlos geblieben. Auch die Rabbiner, traditionell im Judentum weitaus einflußreicher als die Gemeindevorsitzenden, hatten neben Galinski nie eine Chance, sich zu entfalten. Mindestens elf Rabbiner kündigten nach Auseinandersetzungen mit ihm ihren Job. Es geht auch auf sein Konto, daß die meisten jüdischen Intellektuellen in Berlin ihr Jüdischsein außerhalb der Gemeinde pflegen. Demokratische Streitkultur, außerhalb der Gemeinde vom ihm eingefordert, war ihm intern immer nur lästig. Faktisch entschied er alles alleine. Nur den deutschen Politikern war das immer recht. Sie bürdeten dem großen Vorsitzenden Galinski eine Verpflichtung und Last auf, die sie und die deutschen Nichtjuden halten und tragen müßten: durch Trauer und Gedenken das Wissen um die gequälten, ermordeten und aus Deutschland herausgetriebenen Juden für alle Zeiten wachzuhalten.

Heinz Galinski war der ewig Mahnende. Dafür wurde er von vielen gehaßt und von den Politikern in diesem Land, die gerne das gräßliche Wort von „unseren jüdischen Mitbürgern“ im Munde führen, mit allen Ehren überhauft: dem Bundesverdienstkreuz, der Ehrendoktorwürde und der Ehrenbürgerschaft von Berlin sowie dem Goldenen Stern der Völkerfreundschaft von Erich Honeckers DDR.

Im Talmud heißt es: „Der Mensch ist erst tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist.“ Heinz Galinski ist längst noch nicht gestorben. Anita Kugler