Der Konsens, als bestünde er schon

■ Zur neuesten Essay-Sammlung des amerikanischen Star-Philosophen John Rawls

Im theoretischen Vakuum post-marxistischer Zeiten ist jedermann verzweifelt auf der Suche nach neuen politischen Modellen. Dies mag erklären, warum John Rawls als einer der größten politischen Philosophen dieser Zeit zelebriert wird. Der Suhrkamp Verlag würdigt seine Arbeiten des letzten Jahrzehnts, die im Englischen nur verstreut in Zeitschriften erschienen waren, mit einem Sammelband, der die neuere Entwicklung seiner politischen Philosophie in seiner ganzen Kohärenz darstellt.

Die „Idee des politischen Liberalismus“ und vor allem die beiden Kernessays des Bandes, „Gerechtigkeit als Fairneß“ und „Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses“ dokumentieren die Evolution, die sich seit der „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971, deutsch 1975) vollzogen hat.

In der „Theorie der Gerechtigkeit“ definierte Rawls Gerechtigkeit als das, was freie und gleiche Bürger für gut halten würden, wenn sie unter fairen Bedingungen entscheiden könnten. Eine Beziehung zwischen Bürgern und öfentlicher Macht läßt sich, wie schon bei Hobbes und Rousseau, durch die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags darstellen. Der „Vertrag“ muß von allen Bürgern akzeptiert werden, seine Umsetzung soll aber auch durch die Aktivität der Bürger kontrolliert werden. Versagen die Kontrollmechanismen, wird die Macht illegitim. Die auf Gerechtigkeit gegründete Legitimität muß vor allen und mit den gleichen Gründen für alle gerechtfertigt werden können. Das Prinzip dieser gerechten Beziehung zwischen Bürgern und öffentlicher Macht wird in einer Verfassung gesichert.

Die neueren Arbeiten führen eine wichtige Entwicklung ein: die Vereinbarung über das, was als öffentlich gerecht vertreten wird und allen Bürgern gemeinsam ist (die Gesetze, die öffentlichen Institutionen), setzt nicht „eine gemeinsame Vorstellung von der Bedeutung, dem Wert und dem Zweck menschlichen Lebens“ voraus. „Politisch, nicht metaphysisch“ ist die Vereinbarung über das, was gerecht ist. Damit soll die „Tatsache des Pluralismus“ in modernen Demokratien mit einer für alle Bürger gültigen Gerechtigkeit versöhnt werden. Pluralismus ergibt sich aus Meinungsunterschieden, die trotz rationaler Argumentation von allen Seiten und ohne daß eine von den verschiedenen Positionen als falsch, unvernünftig oder ungerecht gekennzeichnet werden kann, immer bestehen. Pluralismus bedeutet, daß jeder anerkennt, daß es Meinungen gibt, die miteinander unvereinbar und trotzdem alle gültig sind.

Der „übergreifende Konsens“ spielt sich nicht auf dem Terrain der Ethik ab (was ein metaphysischer Begriff wäre); er verlangt nicht, daß die Bürger ähnliche kulturelle oder religiöse Indentität und Werte besitzen. Er soll aber zwischen ihnen vermitteln und den Rahmen für deren gerechtes Zusammenleben darstellen.

Gerade dies könnte Rawls' politische Philosophie für uns attraktiv machen. Moderne Demokratien kennzeichnen sich auch dadurch, daß Menschen verschiedenster Weltanschauungen in ihnen leben, daß Kulturen nicht getrennt voneinander koexistieren, sondern alltäglich miteinander konfrontiert werden. Im Gegensatz zu politischen Philosophien, die auf einer — immer historisch bedingten — Ethik basiseren, oder zu kultur-gesellschaftlichen Bewegungen, die eine politische Legitimität in einer kulturellen, nationalen oder religiösen Tradition suchen, ist Rawls' Modell einer „sozialen Kooperation“ zwischen unterschiedlichen — eventuell verfeindeten — Akteuren wenigstens als regulatives Modell unabdingbar, gerade weil es dem Kulturrelativismus nicht zum Opfer fällt.

Der Konsens wird von Rawls so betrachtet, als bestünde er schon — eine doch gewagte Annahme! Weder bietet er konkrete noch theoretische Hinweise, wie man real-existierende Konflikte interpretieren und darüber hinaus zum Konsens gelangen kann. Es mag nicht unbedingt Aufgabe der Philosophie sein, gesellschaftliche Realität zu kommentieren und Rezepte zu verschreiben, aber nach ihrer Relevanz hic et nunc und nach ihren empirischen Grundlagen darf gefragt werden, wenn der Autor wirklich einen effektiven theoretischen Rahmen für „soziale Kooperation“ in den gegenwärtigen multiethnischen, multireligiösen und möglichst auch noch demokratischen Gesellschaften anbieten will.

Rawls' Liste der Grundgüter (die als das, was für die Realisierung von Lebensplänen unter gerechten Bedingungen nützlich ist, definiert werden) schließt mit den anderen Grundfreiheiten und Verfassungsgarantien auch „Einkommen und Besitz“ sowie „soziale Grundlagen der Selbstachtung“ ein. Wie kann das Verhältnis von politischer zu sozialer Gerechtigkeit theoretisch ausgearbeitet werden?

Die Idee eines „übergreifenden Konsenses“ besteht „in bestimmten grundlegenden intuitiven Gedanken, von denen wir annehmen, daß sie latent in der öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft vorhanden sind“. Ist diese Kultur in den gegenwärtigen Gesellschaften wirklich latent? Politische Partizipation und selbst Wahlbeteiligung der Bürger sinken. Wie kann also Gerechtigkeit als Fairneß unter Baudrillards „schweigsamen Mehrheiten“ praktiziert werden?

Was passiert, wenn manche Bürger oder manche Gruppen innerhalb der Gesellschaft aus kulturellen Gründen die öffentlich vertretene Auffassung von Gerechtigkeit nicht nachvollziehen können? Wenn die Bürger sich nicht einigen können, was in den privaten und was in den öffentlichen Bereich gehört? Wenn der Gehorsam gegenüber religiösen, „heiligen“ Gesetzen zwangsläufig zu Ungehorsam gegenüber den Verfassungen weltlicher Staaten führt? Wenn die Zustimmung zu dem übergreifenden Konsens zu Gewissenskonflikten führen, die nicht mehr als rein „privat“ abgetan werden können?

Von Kant sagt die Straßenphilosophie, er habe zwar saubere Hände, aber nur, weil er eben gar keine Hände habe. Von Rawls kann zumindest gesagt werden, er habe seine Finger auf gewisse schwelende Wunden noch nicht gelegt. Béatrice Durand

John Rawls: „Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989.“ Suhrkamp 1992, herausgegeben und eingeleitet von Wilfried Hinsch. Aus dem Amerikanischen von Wilfried Hinsch, Markus Klatzki und Michael Anderheiden, 420Seiten, gebunden, 64DM.