DEBATTE
: Wie befriedet man das Chaos?

■ Deutsche Außenpolitik zwischen Weltstreitmacht und Weltinnenpolitik

Wenn nun auch die Kabarettisten (Deutschmann) und die bekanntesten Friedensforschungsinstitute in der Frage der militärischen Intervention im jugoslawischen Bürgerkrieg zu Bellizisten werden, wird es ernst. Dann geht es nicht mehr um die Alltagsfrage der Lufthoheit über die deutschen Stammtische, sondern um die Konfessionszugehörigkeit der Altäre der politischen Verantwortungsethik. Solche Schlachten dauern in europäischen Kulturkreisen Jahrzehnte. Das verbindet tatsächlich die jetzige Debatte mit der über die Wiederbewaffnung und Nato- Zugehörigkeit zu Anfang der Bundesrepublik oder mit dem großen Streit um die Nachrüstung am Ende der sozialliberalen Ära. Es geht um einen Paradigmenwechsel.

Daß bei dem aktuellen Anstoß für diese Debatte uralte Namen wie der historische Ort Sarajevo und ein Panzerkreuzer namens Zerstörer eine Rolle spielen, macht die Sache nicht beruhigender — sie irritiert selbst diejenigen, die kaum zu symbolischem Aberglauben neigen. Symbolische Debatten haben immer eine eigenartige Macht und unberechenbare, irrationale Verlaufsformen. Das Symbol ist ein Medium zur Überwindung sperriger Wirklichkeiten: Eben befand man sich noch auf der Scheinebene einer bloß symbolischen Debatte — und plötzlich hat sich die Realität geändert.

Allerdings erhalten die Symbole eine solche Macht erst dann, wenn die konkrete Wirklichkeit selbst auf Veränderung drängt und in den alten Handlungsmustern nicht mehr einzuzäunen ist. Daß das neue größere Deutschland eine veränderte Rolle in einem von Nationalitätenkonflikten geschüttelten Europa und in einer auf chaotische ökonomische, soziale und ökologische Krisen zusteuernden Weltgemeinschaft hat, steht groß an jeder Wand und pfeifen die Spatzen von den Dächern. Das auszudiskutieren stand schon vor dem Golfkrieg und vor der Krise auf dem Balkan an.

Wer das nicht als Ausgangspunkt anerkennt, gewinnt nichts und verliert nur kostbare Zeit. Wer am überzeugendsten die neue Rolle Deutschlands und die daraus resultierenden Aufgaben für die deutsche Außenpolitik definiert, wird aller Voraussicht nach den Auftrag erhalten, das nächste Jahrzehnt zu gestalten — das ist bei uns nicht anders als in den USA.

Egon Bahr und Peter Glotz haben allerdings davor gewarnt, die Frage einer militärischen Intervention auf dem Balkan — womöglich noch mit deutscher Hilfe — als jenen Testfall für die Neubestimmung deutscher Außenpolitik zu nehmen. Sie haben völlig recht. So wie es aussieht, hat Klaus Kinkel mit seiner schnellen Kabinettsentscheidung für den Einsatz der „Bayern“ seinen ersten Fehler aus Übereifrigkeit begangen: Da wird ein Schiff losgeschickt, das nichts sein soll, als ein etwas zu groß geratener Fernglasträger, auch wenn es nach außen hin sehr wie ein Zerstörer aussieht. Wen soll dieses Schiff eigentlich ins Visier nehmen? Und was soll es zerstören? Daß es bei der Entsendung dieses Geschwaders eben noch nicht um den ersten Schritt der neuen Außenpolitik, sondern um den letzten der alten Innenpolitik (Opposition blamieren) ging, läßt sich relativ leicht überprüfen. Es klingt brutal und ist trostlos: Der Bürgerkrieg auf dem Balkan ist überhaupt nicht militärisch zu gewinnen — selbst wenn mann alle psychologischen und Verfassungsbarrieren beiseitefegte. In einem so ununterscheidbaren Gemisch von Freunden und Feinden, in einem Gebiet, wo alle Grenzen und Frontlinien erst gezogen werden müßten, wo sollte da welche europäische Streitmacht klärend eingreifen, selbst wenn sie wollte?

Nein, es geht nicht, es geht nicht einmal militärisch. Selbst wenn da irgendeine Form eines von außen herbeigeführten Kriegsendes denkbar wäre, die neue politische Ordnung des Balkans und seiner Staatsgrenzen könnten die UNO oder Europa nur um den Preis eines langwierigen Protektorats mit risikoreichem Verlauf und ungewissem Ausgang gewährleisten, was niemand will. Bürgerkriege sind schwerer zu befrieden als Kriege. Wenn ein Konflikt erst einmal so weit gediehen ist, daß alle Führungen real außer Kraft gesetzt sind, dann geht es wie im Dreißigjährigen Krieg oder im russischen Bürgerkrieg: Ende durch völlige Erschöpfung.

Das einzige, was Europa zur Zeit tun kann, ist 1.) Frauen und Kinder rausholen, und zwar sofort; 2.) den Materialnachschub stoppen, und zwar mit eiserner Konsequenz; 3.) jeden sich bildenden Ansatz einer neuen demokratischen Ordnung im Lande selbst nach Kräften politisch und materiell zu unterstützen.

Was aber hat diese äußerst deprimierende Einschätzung der Situation mit der Debatte um die deutsche Außenpolitik zu tun? Sie gibt Auskunft über die Strategien, mit denen sich alle — die UNO, die Europäer und auch die Deutschen — auf die kommenden Konflikte einstellen. Wenn nicht alles täuscht, gehen wir auf eine Phase weltweiter chaotischer Entwicklungen zu, die nicht mehr in übersichtliche Ideologien und klare Frontlinien aufzuteilen sind.

Die zentrale Frage heißt also: Wie befriedet man das Chaos? Die Verführung ist groß, zu sagen, jetzt erst recht wird eine militärische Option für die „Weltpolizei“ gebraucht, also ein effektiver Arm der UNO, ersatzweise der Nato, ersatzweise der WEU. Diese law and order-Option der Epoche nach dem Kalten Krieg hieße also: Streitmacht gegen Chaos. Die Gegenposition kann die Angst vor der großen Unordnung nicht leugnen — was töricht wäre — sondern muß nachweisen, welche nichtmilitärische, präventive Strategie möglich wäre unter dem Slogan: gestaltende Ordnung gegen das Chaos. Daran mitzuarbeiten wäre eine Aufgabe, für die die deutsche Politik, die jahrelang das Privileg des Verfassungsvorbehaltes genießen konnte, eine besondere Verantwortung hätte. Es geht darum, auch andere Länder in den faktischen Genuß eines solchen Vorbehalts zu versetzen, indem der Handlungsspielraum der nichtmilitärischen Option für alle erweitert wird.

Um ein konkretes Beispiel aus der nationalstaatlichen Innenpolitik zu nehmen: Wenn die Gewaltenteilung nicht funktioniert, steigt der innergesellschaftliche Chaosspiegel. Die Polizei als Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols bekäme schnell paramilitärische Funktion, wenn ein Geschädigter nicht sein Recht vor einem unabhängigen Gericht einfordern könnte, wenn ein soziales Unrecht nicht vom Gesetzgeber beziehungsweise zwischen den Tarifpartnern regelbar wäre, wenn öffentlich aufbrechende Leidenschaften nicht in den Medien zu Wort kämen. Eine vergleichbare ordnende und Konflikte vertrauenerweckend lösende Gewaltenteilung gibt es auf internationaler Ebene fast gar nicht. Deswegen existiert auch keine echte Weltinnenpolitik, ebenso wenig wie es schon eine europäische Innenpolitik mit funktionierender Gewaltenteilung gibt.

Nationale Minderheiten haben keine Nationalitätenkammer als Adresse. Grenzstreitigkeiten keinen anerkannten Gerichtshof, an den sie sich wenden könnten, bevor die Militärs die schnelle direkte Lösung anbieten, die Dritte Welt hat keine anerkannte Tarifpartei, mit der sie gegen das Unrecht des Schuldenwuchers angehen könnte. Die UNO hat keine eigenständige Handlungsmöglichkeit einer polizeimäßigen Vollmacht und vor allem keine föderale Struktur, um vor Ort zu regeln, was dort regelbar ist (zum Beispiel europäische Grünhelme).

Die Alternative — auch für die Debatte über die neue deutsche Außenpolitik — heißt also: Weltstreitmacht oder Weltinnenpolitik. Letzteres braucht allerdings ein überdurchschnittliches Engagement der deutschen Politik — und eine normale Beteiligung. Antje Vollmer