Bigotterie meinerseits

Ob Frau, Asiat oder schwul: Forschungsrichtungen diverser „Identitäten“ haben an amerikanischen Unis teils Fakultätsstatus erlangt. Das, was als „politisch korrekt“ durchgesetzt ist, zeigt folgenschwere Nebenwirkungen. Ein Essay zu den Symptomen systematischer Abschottung  ■ Von Béatrice Durand

Die Universität ist der Ort in der Gesellschaft, wo man ethnische Spannungen am wenigsten erwarten dürfte. Die geschützte Welt des amerikanischen Campus galt immer als toleranter und fortschrittlicher als der Rest der Gesellschaft. Ökonomisch sind die Universitäten kein zu sehr benachteiligtes Milieu. Die Studentenbevölkerung ist ethnisch deutlich gemischter als vor zwanzig Jahren, zumal der Anteil von Minderheiten durch Quotenregelung gefördert wird.

Auch die Institutionen selbst tun viel dafür, daß alle Formen des „Andersseins“ anerkannt und respektiert werden. Sensitivity-training-Seminare sollen auf die Rechte und die Identität von Frauen, Schwarzen, Latinos, Schwulen und so weiter aufmerksam machen und jede Form von Intoleranz in Wort und Benehmen, kurz bigotry, bannen.

Allmählich werden die non- whites nicht nur arithmetisch, sondern auch kulturell im Curriculum vertreten. Die amerikanische Higher Education sieht die Definition und Überlieferung von Kulturgütern, die als cultural literacy und gemeinsamer Besitz aller educated people gelten, als ihre Aufgabe an. Studenten sollen, wie fotografisches Papier, den Meisterwerken der Menschheit exposed, ausgesetzt werden. An den meisten Universitäten müssen die Studenten in den ersten Jahren einen Humanities-Pflichtkurs belegen, der ihnen einen Überblick über die Weltliteratur und Philosophie von der Bibel, Homer und Plato bis zu Wittgenstein und James Joyce verschaffen soll. Zwischenstationen sind Dante, Shakespeare und Goethe. Diesem Kanon wurde vorgeworfen, er schließe wichtige Werke der nicht- westlichen Traditionen und ebenso Werke von Frauen aus und bewirke kulturellen Imperialismus. Um eine Revidierung dieser „survey“ Pflichtkurse zu erlangen, wurden beispielsweise in Stanford Demos veranstaltet, und das Dekansbüro wurde besetzt. Überall ist unter dem Druck von Schwarzen, Latinos, Asiaten sowie Feministinnen eine Neudefinierung der allgemein akzeptierten Kulturgüter im Gange. In dieser notwendigen Erweiterung des Kanons mit der Entdeckung neuer Studiengebiete sind die amerikanischen Universitäten viel weiter als die europäischen.

Warum treten trotzdem immer mehr Konflikte auf, die race or sex related genannt werden? In den Medien breitet sich die Meinung aus, die amerikanischen Universitäten — und zwar alle, die berühmten und die weniger berühmten, die privaten und die staatlichen — befänden sich in einer tiefen Krise. Manche Bücher, die das Gefühl einer intellektuellen Dekadenz postulieren, wie Allan Blooms konservativer Bestseller „The Closing of the American Mind: How Higher Education has Failed Democracy and impoverished the Souls of Today's Students“, könnten den Eindruck vermitteln, daß der Konflikt eine Fortsetzung des kulturpolitischen Kampfes der Minderheiten und der cultural left gegen eine verkalkte weiß-dominierte Institution und intellektuelle Tradition ist, wie er in den sechziger Jahren begonnen wurde. Nur sind die Fronten diesmal nicht mehr so klar. Unter den skeptischen Stimmen hört man auch den Linguisten John Searles, der nicht gerade als reaktionär gilt.

Jenseits der Civil Rights

Ein Blick auf die Diskurse, die die amerikanische Universität über die letzten Jahre produziert hat, die auch die Minderheiten-Diskussion fördern und theoretisch begründen, mag einiges erklären. In der geschlossenen Welt der Universitäten hat sich der Feminismus zu einer selbständigen Philosophie ernannt und sich mit den entsprechenden Institutionen, den Women Studies Departments, versehen. Er hat auch das Modell für eine Kritik der herrschenden Kulturverhältnisse geliefert. Im Gegensatz zu der politischen Bewegung der sechziger Jahre, die für Gleichheit kämpfte, interessiert sich der heutige Feminismus hauptsächlich für die weibliche Identität. Diese wurde, so heißt es, von einem Diskurs und einer Sprache kolonisiert und verfälscht (auch durch Frauen), die letztlich der Ausdruck des Patriarchats waren. Der Einfluß von französischen Feministinnen und Autorinnen (Hélène Cixous, Luce Irigaray, Julia Kristeva u.a.) hat seine Rolle gespielt in der Kritik der gemeinsamen Sprache, der traditionellen Genres und Erzählweisen, wie etwa des Realismus oder des logisch- artikulierten Denkens. Dagegen sollen die wahren, unberührten weiblichen Sprech- und Schreibweisen aufgedeckt werden. Der Dekonstruktivismus, die postmoderne Theorie, obwohl anderer Herkunft innerhalb der Institution, hat Ähnliches bewirkt. Ethnische und durch sexuelle Identitäten motivierte Bewegungen wollen sich am Beispiel des Feminismus als theoretische Diskurse und autonome Studienbereiche konstituieren, die von den traditionellen Fächern abgesondert sind. Nur dadurch kann die entsprechende Identität bestätigt und wirklich dekolonisiert werden. Die akademischen Anforderungen aller „Minderheiten“ der Achtziger und Neunziger sind nicht mehr die des Civil Rights-Kampfes: Es geht nicht mehr um Integration, was eine Eingliederung in den von white males dominierten main stream wäre, sondern um Anerkennung und Bewältigung der eigenen Identität und Kultur.

Neugier auf das Andere

Es ist nicht die Natur dieser Forderung, als vielmehr ihre institutionelle Form, die spürbare Nebenwirkungen mit sich bringt. Jede Gruppe möchte durch entsprechende Lehr- und Sozialeinrichtungen repräsentiert werden. Das Projekt Gay and Lesbian Studies zu schaffen, wird immer als etwas besonders Progressives und seine Gegner als engstirnige Reaktionäre dargestellt. Daß Frauen- oder Gay-Literaturen und -Kulturen nicht nur ein Studienobjekt, sondern auch einen Fachbereich für sich darstellen, läßt sich bestreiten. Die öffentliche Diskussion darüber, was einen Fachbereich definiere und was nicht, ist kaum begonnen. Politische Ziele durchsetzen zu wollen, definiert noch nicht notwendigerweise ein wissenschaftliches Forschungsfeld. Der Glaube, daß etwa die Gründung eines Department für Gay and Lesbian Studies einen Beitrag zu deren gesellschaftlicher Akzeptanz bilde, erweist sich in der Praxis oft als trügerisch. Denn viel wichtiger als die Zersplitterung von Fachbereichen, die sich gegenseitig abschotten und miteinander konkurrieren, wäre der innere Pluralismus der Institute. Die Aufteilung der Fakultäten auf der Basis von „Identitäten“ sorgt zwar für Sichtbarkeit, aber kaum für die viel nötigere multikulturelle Zirkulation des Wissens: Die meisten Women Studies-Kurse werden nur von Frauen, die Black-american Studies von Schwarzen besucht und so weiter. Ausnahme: Stony Brook hat an der State University of New York vor immerhin drei Jahren angefangen, Kurse in Men Studies anzubieten, die sehr gut besucht wurden, und zwar zu zwei Dritteln von Frauen: Neugier auf das Andere gibt es also doch, zumindest von weiblicher Seite aus. Der Grund, warum es bis jetzt meistens keine pluralistischen Gender Studies, sondern nur Women Studies gibt, ist leider einfach: Frauen haben sich zu einer Lobby konstituiert, die eine entscheidende institutionelle Rolle spielt. Es ist zum Beispiel in literarischen oder geisteswissenschaftlichen Fächern schwierig, als Frau Karriere zu machen, wenn man die Frauen-Lobby ignoriert. Für die ethnischen Minderheiten allerdings hat sich noch nicht einmal dieser Vorteil eingestellt.

Ein weiterer Effekt dieser rigiden Abgrenzungen ist das Aufkommen eines neuen Moralismus und Dogmatismus. Als ein Student zu mir kam, um eine independent study über französische homosexuelle Schriftsteller zu machen, berieten wir über die Lektüre. Über Verlaine, Proust und Genet zeigte er sich sehr empört: Deren Darstellung von Homosexualität sei pornographisch und diskriminierend, sie würden keine schwule Literatur schreiben und seien dem herrschenden heterosexuellen Diskurs zum Opfer gefallen. Meine Frage, was schwule Literatur sei und ob es die Pflicht von homosexuellen Schriftstellern sei, den — wie auch immer gearteten — Kriterien einer nicht diskriminierenden, befreiten schwulen Literatur gerecht zu werden, empfand er als ein Zeichen von bigotry meinerseits. Zur Lektüre von Renaud Camus, Hervé Guibert und anderer kam es dann gar nicht mehr. Den Feministinnen wird vorgeworfen, sie würden mit der von ihnen selbst bestimmten Auffassung vom Weiblichen, von der Art, wie es dargestellt und studiert werden will, genau so normativ wie der von ihnen kritisierte main stream umgehen. Baudrillard, der im Laufe der Jahre anscheinend ein paar Erfahrungen im Umgang mit amerikanischen Feministinnen gesammelt hat, wehrt sich in „Cool Memories“ gegen ihren Anspruch, männliche Phantasmen auf das zwanghaft zu beziehen, was vom nun durchgesetzten emanzipierten Standpunkt für politically correct gehalten wird. Es ist auch in der Tat befremdend, daß, wenn frau sich mehr für formale Logik als für „Weibliche Stimmen und die Dekonstruktion des Narrativen“ interessiert, sie sich anhören muß, daß sie Opfer der Rede- und Denkstrategien sei, die als white male in Verruf geraten sind. Von vielen wird die Norm des politically correct (schon wird abgekürzt: PC) als eine Bedrohung gegen die akademische Freiheit

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empfunden, wissenschaftlich und politisch strittige Fragen zu bewältigen. Der PC-Diskurs ist nicht zuletzt eine phantastische Tabu-Erzeugungsmaschine.

Verfestigte Ränder

Diese am Beispiel des Feminismus theoretisch begründete Identitätswut prägt das soziale Leben auf dem Campus. Jeder fühlt sich aufgefordert, mit „seiner“ Gruppe zu „sozialisieren“. Was aber, wenn man weder Frau, schwarz, schwul, Christ, Jude, Latino oder Asiate ist? Diese Liste ist in ihrer Eigendynamik unendlich erweiterbar: Vegetarian- oder Animal-Rightist Studies würden vollkommen in die Logik des Systems passen. Nicht nur die institutionelle Einteilung der Fächer, sondern auch die „thematischen“ Studentenwohnheime, Mensen, fraternities (Verbindungen), die zahlreichen unions, die alle mit entsprechenden Räumen, Universitätsgenehmigungen und Geldern versehen werden, fördern das Phänomen. Oft meint man, es nicht mehr mit selbstbewußten Individuen zu tun zu haben, sondern mit bloßen Trägern bestimmter kollektiver Attribute. Darüber hinaus entspricht diese Reorganisation des sozialen Lebens nicht der Komplexität vieler US-Familiengeschichten: Zu welcher union darf man sich rechnen, wenn man eine chinesisch-jamaikanische Mutter und einen irischen Vater hat? Aus Gesprächen mit Freunden, die an einer — maßstäblich — kleinen Kunstschule tätig waren, an der mehr Wert auf individuelle Entwicklung gelegt wird als an rein wissenschaftlichen Massenuniversitäten, ergab sich, daß ethnische Herkunft sowie alle zur Identität beitragenden Vektoren zwar individuell im kreativen Prozeß thematisiert, jedoch nicht normativ interpretiert werden und keinen zwingenden Einfluß auf das soziale Leben ausüben.

Als schlimmste Nebenwirkung der „Minderheiten“-Diskussion sind etliche White Student Unions gegründet worden, deren rassistische Färbung niemandem ein Geheimnis ist. Sie berufen sich erfolgreich auf die Existenz von Black- oder Latin- American Student Unions, um deren Rechte für sich in Anspruch zu nehmen. Als Parodie der Gay and Lesbian Awareness Week, während der Schwule und Lesben ein rosa Bändchen tragen, organisieren manche Studenten eine Straight Week — eine Woche der Heteros —, in der sie ihr „Anderssein“ durch Hemd und Krawatte signalisieren. Vor dem Zynismus dieses neuen Rassismus sind die sensitivity training seminars von lächerlicher Machtlosigkeit. Im theoretischen Bereich wäre auch das merkwürdige Buch von Camille Paglia, „Sexual Personae“, als Symptom einer für nicht mehr möglich gehaltenen Misogynie erwähnenswert: Es gebe keinen weiblichen Mozart, weil es keinen weiblichen Jack the Ripper gebe; Frauen seien feuchte, eklige Wesen, und die Überlegenheit der Männer in Sachen Kunst und Literatur erkläre sich dadurch, daß sie schöner pissen könnten. This is no joke: Die 718 Seiten wurden sehr wissenschaftlich von der Yale University Press gedruckt, im Jahre 1990.

Die Ignoranz der amerikanischen Führung angesichts der sozialen Zustände im Land und der Rassenunruhen in L.A. („alle Ladenbesitzer werden entschädigt“, „Leute sind arm, weil es die Wohlfahrt gibt“...) verleiht der Identitätsdiskussion Legitimität und Notwendigkeit. Das Beispiel des US-akademischen Mikrokosmos zeigt aber auch, wie gefährlich eine tribalistische Entwicklung für die multikulturelle Diskussion ist, wenn Identitäten mit festen Rändern zur Voraussetzung des Miteinanderlebens gemacht werden.

Béatrice Durand war von 1987 bis 1990 Assistant Professor für Französisch an der State University of New York in Binghamton.