Der Knallfrosch und der Schlafbär

■ Nach Bewältigung sämtlicher Berge kann das Energiebündel Claudio Chiappucci dem Gemütsmenschen Miguel Induráin den Sieg bei der 79. Tour de France kaum noch abspenstig machen

Berlin (taz) — „Induráin kann der beste Fahrer aller Zeiten werden“, sagt kein Geringerer als Eddy Merckx, bislang erster Anwärter auf jenen Titel, den er nun so großzügig an den spanischen Tour-de-France- Sieger des vergangenen und mutmaßlich auch diesen Jahres verleihen will. Nachdem auf dem Weg durch die Auvergne die letzten Berge dieser Tour bewältigt wurden, Induráin weiterhin mit sicherem Vorsprung das Gelbe Trikot des Spitzenreiters trägt und als letzten Trumpf noch das Zeitfahren am Freitag im Ärmel hat, scheint sicher, daß ihm bei dieser 79. Frankreich-Rundfahrt zumindest drei historische Glanztaten gelingen werden. Mit seinen zwei Siegen in Folge wird er erfolgreichster Tour- Spanier, denn seine Vorgänger Federico Bahamontes, Luis Ocana und Pedro Delgado konnten das schwerste Etappenrennen der Welt nur je einmal gewinnen. Zudem tritt Induráin dem illustren Club jener Fahrer bei, die Giro d'Italia und Tour im selben Jahr gewonnen haben, was bis dato lediglich Fausto Coppi, Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault und Stephen Roche gelang. Und er wird vermutlich der schnellste Tour-Sieger aller Zeiten sein.

Nach der 16. Etappe, die der Ire Stephen Roche gewann, betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit Induráins auf den zurückgelegten 3.155 Kilometern 39,45 km/h. Da die restlichen Etappen durch flaches Land führen, ist damit zu rechnen, daß der Sieger am Ende einen Durchschnitt von mehr als 40 Stundenkilometern gefahren sein wird. Bisheriger Rekordhalter war Pedro Delgado mit 39,1 km/h im Jahre 1988.

Dem hohen Tempo fielen schon 67 der gestarteten 198 Fahrer zum Opfer, darunter mit Greg LeMond, Luc Leblanc, Charly Mottet, Federico Etxabe, Moreno Argentin, Laudelino Cubino, Uwe Ampler etliche Team-Kapitäne. Verantwortlich für die Hetzjagd sind jene Fahrer, die sich im Kampf um die nach dieser Saison knapper werdenden Arbeitsplätze ins rechte Licht rücken wollen, und natürlich Claudio Chiappucci. Der kleine Italiener hat von Anfang an durch ständige Attacken jede Hoffnung auf geruhsame Etappen zerstört und seine spektakuläre Alleinfahrt in den Alpen war es, die die Etappe nach Sestrière für viele Radprofis zum schlimmsten Erlebnis ihrer Laufbahn werden ließ. „Dreißig Kilometer vor dem Ziel fühlte ich mich wie eine ausgelutschte Tomate“, berichtete Gilbert Duclos-Lasalle, Vasall Greg LeMonds und beileibe kein schlechter Kletterer. „Dieser Tanz in den Alpen wird uns lange im Gedächtnis bleiben.“ Er kam mit seinem Boß 50 Minuten nach Chiappucci im Ziel an, dennoch waren die beiden eine schnellere Zeit gefahren als jene, die die Organisatoren zuvor für den Sieger prognostiziert hatten.

Früher, da sind sich alle einig, hätte es solch eine wilde Hatz bei der Tour nicht gegeben, die patrons hatten das Peloton fest im Griff und sorgten dafür, daß die zur Regeneration nötigen Bummeletappen eingelegt wurden. „Hinault wurde wütend, wenn das Rennen zu schnell war“, erzählt Charly Mottet, „wenn er sagte: ,gebt Ruhe‘, hielten sich die Leute daran. Induráin wird auch respektiert, aber das Tempo scheint ihm nichts auszumachen, er läßt es zu.“

Der Spanier geht mit der Ruhe eines Bären im Winterschlaf — sein Herz schlägt nur 33 Mal pro Minute — jedes Tempo mit, läßt sich von Ausreißversuchen nicht erschüttern und achtet einzig auf seine größten Rivalen. Nach den Alpen interessierte ihn außer Chiappucci niemand mehr. Nur einmal geriet er in Schwierigkeiten, als er während der achtstündigen Etappe nach Sestrière zu wenig gegessen hatte und zwei Kilometer vor dem Ziel vom sogenannten „Hungerast“ heimgesucht wurde, der auch erfahrene Profis gelegentlich befällt. Von einem Moment auf den anderen schwinden die Kräfte, „es ist, als ob du gegen eine Mauer fährst“, beschrieb Pedro Delgado einmal dieses Gefühl.

Mühselig quälte sich Induráin ins Ziel, doch am nächsten Tag war er wieder ganz der Alte, der mit seinem runden, technisch perfekten und dadurch kraftsparenden Tritt, meist mit kleinerem Gang als die anderen, das Rennen souverän beherrschte. „Ich hatte Angst zusammenzubrechen“, gab der Baske später zu, „ich wußte nicht, wie der Körper reagiert. Aber ich erhole mich derzeit sehr gut und sehr schnell.“

Pech für Claudio Chiappucci, dem wieder einmal nur der zweite Platz bleiben wird. „Seine Strategie ist perfekt. Er macht mich in den Zeitfahren fertig und kontrolliert mich in den Bergen. Ich weiß nicht, was ich tun soll“, fügt sich der Italiener in sein Schicksal. Chiappucci ist klar, daß er eine Tour mit so wenig Gebirgsetappen wie in diesem Jahr gegen Induráin kaum gewinnen kann. „Ich brauche mehr Berge“, sagt der radelnde Knallfrosch aus Uboldo und hat auf die Frage, wann Chiappucci die Tour gewinnen wird, eine klare Antwort parat: „Wenn es ein Bergzeitfahren gibt.“ Matti Lieske

Gesamtklassement: 1. Induráin 79:58:00 Stunden, 2. Chiappucci 1:42 Minuten zurück, 3. Andrew Hampsten (USA) 8:07, 4. Pascal Lino (Frankreich) 9:22, 5. Gianni Bugno (Italien) 10:09, 6. Pedro Delgado (Spanien) 11:50, 7. Erik Breukink (Niederlande) 15:54, Giancarlo Perini (Italien) 15:56, 9. Stephen Roche (Irland) 17:12, 10. Franco Vona (Italien) 19:22, 11. Heppner 20:01... 35. Bölts 1:05:03 Stunden zurück, 56. Krieger 1:37:30, 78. Kummer 2:11:55, 96. Ludwig 2:37:14, 129. Kappes 3:35:01

16. Etappe von Saint Etienne nach La Bourboule (212 km): 1. Stephen Roche (Irland) 5:52:14 Stunden, 2. Wjatscheslaw Jekimow (GUS) 46 Sekunden zurück, 3. Jon Unzaga (Spanien) 50, 4. Claudio Chiappucci (Italien) 51, 5. Steven Rooks (Niederlande), 6. Laurent Jalabert (Frankreich), Miguel Induráin (Spanien) alle 51 Sekunden zurück, ... 45. Jens Heppner (Gera) 2:30 Minuten zurück,