Wir Waisenkinder

Lateinamerika ist ein Ergebnis der Vermischung von Kulturen — spanisch, indianisch, afrikanisch. Aber Lateinamerikas Mischlinge, die Mestizen, leiden unter einem Identitätsdefizit. Mit ihrem Nacheifern der europäischen Nationenbildung haben sie Lateinamerika in eine Sackgasse getrieben und die Herausbildung eigener Entwicklungs- wege verhindert. Das Scheitern der Sandinisten in Nicaragua verdeutlicht die Notwendigkeit, neue Wege jenseits des Nationalismus zu suchen.  ■ VON SOFIA MONTENEGRO

Es ist schon oft gesagt worden, daß das Hauptproblem Lateinamerikas und der Lateinamerikaner die Identität ist. Das Problem unseres „Seins“ wurzelt darin, daß die Lateinamerikaner das biologische Resultat des Spanischen und Indianischen sind — gleichzeitig sind wir historisch betrachtet nicht eine indo- hispanische Synthese.

Die koloniale Gesellschaft im spanischsprachigen Amerika wurde geboren und lebte gegen die herrschenden Strömungen des Westens, in Opposition zur Moderne. Entsprechend wurden die lateinamerikanischen Nationen geboren, sie traten ins unabhängige Leben ein in Abgrenzung von ihrer Tradition, die eine Tochter der universellen katholischen Monarchie und der Gegenreformation ist.

Im Unterschied zum englischsprachigen Amerika, Tochter der Reformation, die die moderne Welt begründete, sagt der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz über das spanischsprachige Amerika: „Wir erarbeiteten unsere Zukunftsvorstellungen nicht mit Ideen und Elementen, die aus unserer eigenen Tradition stammten, sondern wir paßten uns dem Zukunftsentwurf an, der von den Europäern und Nordamerikanern erfunden wurde“.

Serrano Caldera hat aufgezeigt, daß das, was in Ibero-Amerika geschehen ist, eine historische Überstülpung war. Wir übernahmen aus Europa das Staatsmodell bereits, bevor wir uns als Nation konstituierten. Deshalb hatten wir nie einen Staat oder eine Nation im authentischen Sinne. Der Kampf zwischen Nation und Imperium war der fundamentale Widerspruch unserer Gesellschaften seit ihrer Geburt. Daher kommt der Nationalismus als Wesenszug unserer Identität.

Das mestizische Tabu

Im Falle von Nicaragua und eines großen Teiles Lateinamerikas schließt die Nation Kulturen ein, die voneinander nicht nur durch verschiedene Sprachen, sondern auch durch unterschiedliche Rassen getrennt sind. Auf unserem Kontinent ist die Hautfarbe sozial definiert, wobei die weiße Hautfarbe das höchste gesellschaftliche Ansehen hat. Dies steht in Widerspruch zu der Tatsache, daß in den Ländern Lateinamerikas die Mehrheit der Bevölkerung eine kupferfarbene Hautfarbe hat und mestizischer oder indigener Herkunft ist.

Aus historischer Sicht erscheint dies recht selbstverständlich, da es auf das brutalste Ereignis in der Geschichte der amerikanischen Völker verweist: die conquista. Genauer gesagt, es erinnert an die Inbesitznahme von Land, die Plünderungen, den Raub und vor allem an die Geburt einer „neuen Rasse“ aufgrund der Vergewaltigung indianischer Frauen, der Beseitigung der ursprünglichen Sprachen und das Aufzwingen einer anderen Sprache, einer anderen Religion und einer neuen Gesellschaftsordnung.

Bis heute ist es kaum möglich, über die Verbrechen der conquista zu reden — nicht nur, weil sie historisch verschwiegen werden und weil eine eurozentristische Interpretation es nicht zuläßt, sondern auch, weil die dadurch verursachten Wunden und offenen Geschwüre, heute wie damals, für die mestizische Bevölkerung eine massive Bedrohung darstellen.

In erster Linie waren es die indigenen Gruppen, die als erste begannen, das Thema der conquista kritisch zu behandeln. Die Bewahrung ihrer traditionellen Lebensformen, ihrer Sprachen, Mythen und Riten war für sie seit der europäischen Invasion vor 500 Jahren eine Form des Widerstandes als authentische Kultur. Das ist nicht wenig, wenn wir bedenken, daß es in Lateinamerika 30 Millionen Indios gibt, die in Ländern wie Guatemala, Peru und Bolivien die Mehrheit der Bevölkerung bilden.

Die Mestizen sind dagegen „ent- indianisierte“ Indios und bilden keine eigene ethnische Gruppe, auch wenn sie heute die Bevölkerungsmehrheit in Ländern wie Nicaragua oder Mexiko bilden. Nur selten sind sie Thema theoretischer Abhandlungen. Alles deutet darauf hin, daß bei ihnen ein Defizit im Bereich der ethnischen Identifikation besteht und daß die Probleme der mestizischen Identität, welche vermeintlich einen Bastard aus der europäischen und der amerikanischen Kultur darstellt, durch die Bildung einer nationalen Identität weder gelöst noch überwunden werden.

Der dritte Stand

Zu Beginn bildeten sich faktisch zwei Republiken: die der Spanier und die der Indios. Die Rolle der ersten war, zu regieren und den Staat zu beschützen, die der zweiten, zu gehorchen und zu arbeiten. Gleichzeitig praktizierten die indigenen Völker während der Kolonialepoche die gleiche Form gemeinschaftlichen Lebens wie vorher. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit zerstörte das spanische Regime diese Lebensform nicht: Die Gesetze gestanden der traditionellen indianischen Aristokratie dieselben Privilegien zu wie dem spanischen Adel. In gewisser Weise fungierte sie als Vermittler zwischen Indios und Spaniern. Diese Verbindung war entscheidend für die höhere soziale Rangordnung der indianischen Schicht im Vergleich zu Mischlingen und Sklaven.

Eine dritte Bevölkerungsgruppe wurde durch die Personen gebildet, die aus der Mischung zwischen Indios, Spaniern und Schwarzen aus Afrika hervorgingen — die ladinos oder Mestizen. Dadurch, daß die Mestizen weder zu den Siegern noch zu den Besiegten gehörten, befanden sie sich außerhalb der gesetzlichen Ordnung des spanischen Kolonialreiches. Viele von ihnen entstammten illegitimen Verbindungen. Sie unterschieden sich sehr klar von den Indios, weil sie sich nicht in Gemeinschaften gruppierten, es ihnen an kollektiven Gütern mangelte und sie selten über Boden verfügten, den sie beackern konnten.

Daher entkamen sie den Pflichten, die von den lokalen Behörden verhängt wurden. Sie waren nicht in der gleichen Weise wie die Indios den Spaniern unterworfen: Sie zahlten weder Steuern an den König, noch wurden sie zur Zwangsarbeit eingeteilt. Sie befanden sich außerhalb ziviler, militärischer und religiöser Funktionen; die ökonomischen Aktivitäten, deren Ausübung ihnen gestattet wurde, reichten nie aus, um viel zu akkumulieren.

In dieser Situation hätte man eigentlich das Aufkommen einer mestizischen Ideologie oder einer Gruppenidentität erwarten können. Aber nichts davon geschah, weil sie, wie German Romero sagt, untereinander gespalten waren. „Die Mestizen wollten nicht mit den Mulatten in einen Topf geworfen werden und versuchten, sich in die Gruppe der Spanier zu integrieren. Die Mulatten ihrerseits versuchten, ebenfalls Aufnahme in die Schicht der Spanier zu finden, sobald sie in einem bestimmten Bereich erfolgreich waren oder sich durch spezielle Dienste ausgezeichnet hatten.“

Diese Entwicklung bewirkte, daß die ladinos sich hispanisierten und schließlich die indianische Kultur und den indianischen Ursprung abstritten. Sie verleugneten die Kultur ihrer Mütter.

Wir Waisenkinder

Wie Octavio Paz treffend schreibt, war der Mestize aus der Sicht der beiden moralischen Traditionen — der spanischen, begründet im Ehrgefühl, und der indianischen, die auf der sakrosankten Bedeutung der Familie beruhte — die lebendige Verkörperung der Illegitimität.

Wir können feststellen, daß während der Kolonialzeit die Identitätskonflikte entstanden und zusammenkamen, die bis heute in uns weiterleben. Ein Verwaistsein — in dreifacher Hinsicht: die spirituelle Verwaisung der Indios, die Verwaisung der Kreolen (Mischlinge aus Spaniern und Schwarzen) durch die Trennung vom heimatlichen Boden und die Verwaisung von der mütterlichen Kultur, unter der die Mestizen leiden. In alldem gibt es lediglich einen kulturellen Bezugspunkt — die spanische Kultur.

Die Antwort war, auf religiösem Wege nach einer symbolischen Mutter zu suchen. Bei der Jungfrau Maria treffen sich Kreolen, Indios und Mestizen. Es ist nicht zufällig, daß das Phänomen des Marienkults eine Konstante in Lateinamerika bildet. Unter verschiedenen christlichen oder afrikanischen Namen verbirgt sich hier die Anrufung einer besseren, weit entfernten Zeit.

Plurale Identität

Ich teile mit dem mexikanischen Anthropologen Guillermo Bonfil Batalla die Meinung, daß, auch wenn es durchaus eine biologische Mischung gegeben hat, keine „nationale mestizische Kultur“ in Lateinamerika existiert, und daß das, was sich als solche präsentiert, in allen Fällen degradierte Varianten der europäischen Kultur sind. Es hat keine Integration zweier Kulturen stattgefunden, sondern es wurde eine Kultur aufgezwungen, die notwendigerweise einer anderen Situation angepaßt wurde und einige Wesenszüge der vorher existierenden Kulturen übernahm — mehr nicht. Die zugrundeliegenden Zivilisationen und Kulturen, sowohl die indianischen als auch die schwarzen, wurden geleugnet; ebenso die Kultur derjenigen Bevölkerungsgruppen, die sich bisher noch nicht als indigenas definieren, aber kulturelle Muster dieses Ursprunges bewahren.

So zwingt uns die Suche nach einer Alternative, die unseren Bedürfnissen und unserer Realität entspräche, in der Tradition der indigenen Kultur zu wühlen.

Die indianische Kultur begründet sich auf der Existenz des Indios an sich. Der Indio drückt sich selbst in seiner kulturellen Praxis aus, und sein unmittelbares Bewußtsein beinhaltet die Kenntnis von Unterschieden zum Nichtindio, für die er einen Bezugspunkt zur Identifikation anbietet. Der Mestize ist ein „entindianisierter“ Indio, dem es an einer eigenen Identität mangelt — wofür sich keine tatsächliche Kompensation anbietet, so daß dies ein ungelöster Konflikt bleibt.

Die Schaffung eines eigenen lateinamerikanischen Projekts müßte von der Anerkennung der ethnischen Unterschiedlichkeiten ausgehen, von unterschiedlichen und kontrastierenden Identitäten. Dies ist kein Anachronismus oder ein Phänomen der Rückständigkeit — für diejenigen, die auf der Idee der „Nation“ bestehen —, sondern eine grundlegende Dimension. Ohne deren vollständiges Begreifen, mit allen Konsequenzen und Implikationen, ist es nicht möglich, sich ein Zukunftsprojekt vorzustellen, das in der Lage wäre, die entscheidenden Probleme unserer Gesellschaften zu lösen.

Nicaraguas Scheitern

Bei der nicaraguanischen Revolution basierte die revolutionäre Identität der militanten Sandinisten — der Elite, die den Kampf anführte — auf der Entwicklung ihrer Klassenidentität, welche sich ihrerseits auf die Teilnahme am Befreiungskampf stützte. Die Somoza-Diktatur und die durch die somozistische Garde ausgeübte Repression eröffneten unmittelbare Möglichkeiten, sich mit der Nation zu identifizieren, da die persönlich erlittenen Bedrohungen in Zusammenhang mit den Bedrohungen standen, die von anderen erlitten wurden. Durch den Kampf und den revolutionären Triumph befreite sich die Bevölkerung von der Opferrolle und verwandelte sich in ein aktives Subjekt.

Das Wort „Würde“ war in Nicaragua ständig in aller Munde; es war das Lebensgefühl, das in den ersten Jahren der Revolution am umfassendsten geteilt wurde. Vielleicht, weil dies die Jahre der direktesten Beteiligung der Bevölkerung waren, welche durch das Abstreifen der uralten Opferidentität und durch die Möglichkeit, sich mit „etwas Eigenem und Gemeinsamen“ zu identifizieren, Selbstwertgefühl und Selbstachtung wiedererlangt hatte. Ich wage zu behaupten, daß die sandinistische Revolution in gewisser Weise der historische und politische Triumph des Mestizen ist.

Das elitäre Konzept der Avantgardepartei — ebenfalls Erbin der autoritären und vertikalen politischen Kultur Spaniens und ebenfalls durch Klassenneid und Sektierertum geprägt — bewirkte aber, daß inmitten der allgemeinen Schwierigkeiten die Möglichkeiten, in der Revolution und für sie zu lernen, sehr ungleich verteilt waren. Auch wenn die sandinistische Regierung immense Veränderungen zum Wohl der Bevölkerung bewirkte, blieb diese aufgrund der paternalistischen Haltung des Staates mehr in der Rolle von Empfängern als in der von Beteiligten.

Diese Empfängerrolle paßte sehr gut in das geschichtliche Opferschema. Auf diese Weise fügte sich alles zusammen: Das Wirtschaftsembargo, der low intensity war, die Greueltaten der Contra, die Mißernten, die Hyperinflation, bis hin zum Hurrikan Joan.

Angesichts des äußeren Drucks und des persönlichen Elends wurde die Identifizierung mit der nationalen Souveränität unhaltbar. Die Identifikation mit der souveränen Nation war durch konkrete Fakten untergraben worden — die persönlichen Interessen. Die Wahlen von 1990 boten die Gelegenheit, dies zuzugeben. Mit der vernichtenden Wahlniederlage des Sandinismus, der entsetzten Reaktion des ganzen Landes und dem schuldbewußten Verhalten derjenigen, die gegen die FSLN gestimmt hatten, fiel der Protagonist der Geschichte — die Nation — erneut in seine traditionelle Opferrolle zurück.

Die FSLN, ebenso wie die anderen linken Parteien Lateinamerikas, hat ethnische Tatsachen nicht akzeptieren können, weder theoretisch noch praktisch. In der Tat haben sie, die Existenz der Indios genausowenig akzeptiert wie die Existenz der Frauen.

Jenseits der Nation

Der Diskurs der Linken subsumiert im großen ganzen die ethnischen Gruppen unter der Kategorie campesinado (Bauerntum). Ähnlich wie den Frauen wird auch den als solchen definierten ethnischen Gruppen jegliche revolutionäre Kapazität abgesprochen und ihnen als einzig mögliche historische Rolle die Einordnung in den Kampf für das politische Programm des Proletariats angeboten.

Das campesinado bewahrt, auch wenn es entindianisiert ist, sein Verhältnis gegenüber der Erde. Es ist aufgrund der Kontinuität des Volkes mit seiner Kultur verbunden. Dies nicht zu verstehen führt unausweichlich zu Zusammenstößen — insbesondere, wenn diejenigen, die die Beschlüsse fällen, städtische Mestizen mit Klassenbewußtsein sind.

Zusammenfassend möchte ich sagen, daß die nationale Souveränität nicht aufrechtzuerhalten ist, wenn man in Rechnung stellt, daß der Nationalismus ein Defizit im Bereich der ethnischen Identifikation mit sich zieht. Wenn es für die Mestizen einen Weg gäbe, sich mit einer Ethnie zu identifizieren, könnte der Nationalismus überflüssig werden. Die Übernahme des kulturellen Erbes der Indios könnte gemeinsam mit der feministischen Analyse klare Vorbedingungen für einen neuen, diesmal aufrichtigen und eigenen Weg schaffen.

Auszug aus einem Vortrag, der im Mai bei einem Kongreß zum Thema „500 Jahre Kolonialismus“ in Düsseldorf gehalten wurde. Die Autorin ist ehemalige Chefredakteurin der sandinistischen Zeitung Barricada in Nicaragua und gibt derzeit eine Wochenbeilage dieser Zeitung heraus. Politisch gilt sie als eine der wichtigsten feministischen Kritikerinnen innerhalb der FSLN. Der vollständige Text ist unter dem Titel „Identität und Kolonialismus — Die Rückkehr der Malinche“ bei der Frauengruppe des Info-Büros Nicaragua in Wuppertal erhältlich. Übersetzung: Bettina Bremme