Ungarns Ikarus fliegt im Dunkeln

Manager des traditionsreichen Budapester Autobus-Werks suchen nach der rettenden Kooperation  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Ikarus — bei dem Namen denken die einen an den tragischen Helden aus der griechischen Sagenwelt, der bei seinem Höhenflug so schmählich abstürzte. Anderen fällt hingegen der ungarische Fahrzeughersteller Ikarus ein. Dessen Autobusse sind zwar keine technischen Legenden, aber sie gehen keinesfalls, wie ihr Name vermuten ließe, auf ihren ersten Kilometern zu Bruch. Im Gegenteil: Wenn Ikarus-Busse für etwas berühmt sind, dann für ihre Robustheit, der selbst eine russische Fernverkehrsstraße so schnell nichts anhaben kann. Sollten sie also lieber den Namen des ungleich weniger bekannten Vaters von Ikarus tragen, Daedalus, der seinen Flug sicher überstand?

Mehr als 80 Jahre nach seiner Gründung könnte das Unternehmen, das bis nach dem Zweiten Weltkrieg Flugzeugpropeller herstellte, kaum einen geeigneteren Namen als Ikarus tragen. Einstmals zählte das Werk mit einer durchschnittlichen Jahresstückzahl von 14.000 Bussen zu den größten seiner Branche in der Welt. Mehr als drei Viertel der Produktion nahmen die realsozialistischen Partner ab. Doch die politisch-ökonomischen Zerrüttungserscheinungen im ehemaligen Ostblock gingen auch an dem erfolgreichen Busproduzenten nicht spurlos vorbei. „Wir sind in eine tragische Lage geraten“, sagt Lajos Rutkai, Chefkonstrukteur bei Ikarus.

Der Sinkflug begann mit dem Zerfall des osteuropäischen Wirtschaftsraums RGW seit 1989. Zum fast tödlichen Sturzflug setzte das Unternehmen an, als im Januar 1991 zwischen den RGW-Ländern Dollarabrechnung und Weltmarktpreise eingeführt wurden. Der Hauptabnehmer Sowjetunion etwa, der in Spitzenjahren wie 1987 60 Prozent der Produktion geordert hatte, konnte nicht mehr zahlen. Nach der deutschen Wiedervereinigung stornierte die Ex-DDR ihre Bestellungen, und auch der einheimische ungarische Markt schraubte seinen Bedarf herunter. Im ersten Krisenjahr, 1989, wurden immerhin noch 12.000 Busse produziert, 10.000 gingen davon an Ostblock-Partner. Im letzten Jahr verließen nur 5.000 Ikarusse die Werke, davon nahmen die Ex-RGW- Länder nicht einmal die Hälfte ab.

Unter dem Druck der Existenzschwierigkeiten warb der Bushersteller zusammen mit der Staatlichen Vermögensagentur ÁVÜ, der ungarischen Privatisierungsanstalt, um potentielle Investoren. Zur Debatte steht auch eine Beteiligung von Mercedes-Benz. Die deutsche Firma hatte Ikarus vergangenen Dezember angeboten, 20 Prozent der Aktien zu kaufen, die Offerte jedoch mit der Bedingung verknüpft, daß die Staatliche Vermögensagentur ÁVÜ, die ungarische Privatisierungsanstalt, ihren 63-Prozent-Anteil auf mindestens 15 Prozent senkt. Ikarus steht seitdem vor einem Dilemma: Das technologische Know-how von Mercedes ist für Ungarn lukrativ, auf der anderen Seite fürchten sie, es könne dem deutschen Unternehmen nur darum gehen, den ungarischen Bushersteller auf den Ostmärkten auszuschalten. „Was schätzen Sie“, fragt Lajos Rutkai, „was geschehen wird, wenn Mercedes einen Teil von Ikarus kauft? Meine ganz persönliche Meinung dazu, eine Mercedes- Tochtergesellschaft zu werden, ist: lieber nicht.“

Bei Mercedes wiederum wurde gestern auf Anfrage dementiert, daß es überhaupt ein konkretes Angebot für den Kauf von 20 Prozent der Aktien gegeben hat. „Wir führen lockere Gespräche über eine intelligente Kooperation mit Ikarus und den russischen Abnehmern“, sagte Mercedes-Sprecher Hans-Georg Kloos. Befürchtungen, Mercedes wolle nur einen Konkurrenten ausschalten, seien eine „blödsinnige These“. Ein Ergebnis der Verhandlungen hänge für Mercedes allein von der Entwicklung auf dem russischen Absatzmarkt ab.

Vor dem totalen Absturz hat zunächst ein sowjetisch-kanadisch-ungarisches Firmenkonsortium das traditionsreiche Unternehmen bewahrt, das in Ungarn fast im Range eines Nationalsymbols steht. Während bei der ÁVÜ 63 Prozent der Aktien verblieben, übernahm die mittlerweile russisch-ukrainisch-bjelorussisch-kasachische Atex AG im September 1991 30 Prozent. Die restlichen sieben Prozent teilten sich die kanadische Investmentgesellschaft Central European Investment Company (CEIC), das ungarische Außenhandelsunternehmen Mogürt AG und die Magyar Hitel Bank AG.

Gelöst waren die Ikarus-Probleme damit nicht. Die neue AG konnte erst Monate später anfangen zu arbeiten, als die selbst von Liquiditätssorgen geplagte Atex AG ihren Anteil an den 11,2 Milliarden Forint Grundkapital (224 Mio. DM) überwiesen hatte.

Am Jahresende stellte sich dann durch die neue Bilanzierungsmethode heraus, daß das Unternehmen von September bis Dezember 1991 einen Verlust von 360 Mio. Forint (7,2 Mio. DM) eingefahren hatte. Demgegenüber hatte sich für die ersten acht Monate des Jahres zumindest ein buchhalterischer Gewinn von 600 Mio. Forint (12 Mio. DM) ergeben.

So verkündete das Ikarus-Management im Januar 1992 den Plan, Schuldentitel mit mehrjähriger Laufzeit im Wert von 50 bis 100 Mio. Dollar auszugeben, ein Vorhaben, über das seit Monaten ergebnislos verhandelt wird. Einmal auf den internationalen Markt gebracht, so die Bedenken der kanadischen Miteigentümer, könnten die Schuldentitel die Eigenstumsstruktur des Unternehmens durcheinanderbringen.

Eine Entscheidung soll das Krisenprogramm bringen, das seit Anfang Juli in der Budapester Ikarus- Zentrale entworfen wird. Im Rahmen dessen soll, so Ikarus-Finanzchef László Bécsy, die Beschäftigtenzahl von 12.000 auf 10.000 verringert und über den Mercedes-Einstieg erneut debattiert werden.

Wenn auch bei Ikarus keine rechte Mercedes-Begeisterung aufkommen will, so könnte das Unternehmen doch zur Kooperation gezwungen sein. Denn nach neuesten Angaben hält der Sinkflug von Ikarus weiter an, wenn auch mit verminderter Geschwindigkeit und ohne Aufprallgefahr. Statt, wie ursprünglich geplant, mit 7.700, rechnet man in diesem Jahr nur noch mit 3.966 verkauften Bussen. Und auch für die nächsten beiden Jahre sollen es lediglich je 3.500 sein. Eine Budapester Wochenzeitung brachte die Lage des Busherstellers auf den Punkt: „Seit die RGW-Sonne untergegangen ist, fliegt Ikarus im Dunkeln.“