Entwurzelt, Zelt an Zelt, kriegsmüde

■ Eine halbe Million Menschen sind in Bosnien-Herzego-wina auf der Flucht sie kommen gar nicht erst zur Grenze Kroatiens durch, das selbst zerstört ist. Auch Slowenien hat die Grenzen dichtgemacht...

Entwurzelt, Zelt an Zelt, kriegsmüde Eine halbe Million Menschen sind in Bosnien-Herzegowina auf der Flucht — sie kommen gar nicht erst zur Grenze Kroatiens durch, das selbst zerstört ist. Auch Slowenien hat die Grenzen dichtgemacht. Wer männlich, jung, unverletzt ist, wird zum Kämpfen zurückgeschickt.

Eine halbe Million Menschen sind in Bosnien-Herzegowina auf der Flucht. Sie sind kein Problem. Sie bitten nirgends, hereingelassen zu werden, sie verlangen kein Bleiberecht und auch kein politisches Asyl. Sie kommen gar nicht bis zur Grenze Kroatiens oder auch Serbiens oder Montenegros durch, wo sie überhaupt etwas fordern könnten. Sie sind entwurzelt im eigenen Land, eingeschlossen, eingekesselt, irgendwo auf der Flucht in den Bergen vor allem Zentral- und Nordbosniens. Das Problem sind über 700.000 weitere Bosnier, die es geschafft haben, sich an die Grenze ihrer seit April unabhängigen Republik, vor allem nach Norden, nach Kroatien, durchzuschlagen. Vor zwei Wochen kündigte die Regierung in Zagreb an, Flüchtlinge künftig nach Westen abzuschieben. Gewissermaßen verständlich.

Inzwischen machen die Flüchtlinge immerhin 13 Prozent der in Kroatien ansässigen Bevölkerung aus — neben den 267.000 Flüchtlingen aus serbisch besetzten Gebieten Kroatiens sind es 310.500 aus Bosnien-Herzegowina (UNO-Angaben vom 14. Juli 1992). Und Kroatien selbst liegt aufgrund des serbischen Aggressionskrieges wirtschaftlich danieder. Industrieanlagen wurden zerbombt, Städte zerstört, an der Küste ist der Tourismus zusammengebrochen. Nach Westen abschieben, das heißt nach Slowenien (Kroatien hat keine gemeinsame Grenze mit Italien oder Österreich). Slowenien hat aber seine Grenzen auch dichtgemacht. Das Land mit etwa gleich viel Einwohnern wie Hamburg hat schon 63.000 Flüchtlinge — vor allem aus Kroatien — aufgenommen. So lagerten vergangene Woche Tausende bosnischer Flüchtlinge unter und entlang den Zügen in kroatischen Grenzbahnhöfen. Die erbärmlichen Bilder gingen um die Welt, und einige westliche Länder erbarmten sich ein wenig. Deutschland will 5.000 Flüchtlinge aufnehmen.

Zehntausende bosnische Flüchtlinge sind bei Familien in Kroatien untergekommen, im Ausland also, bei Bekannten und Unbekannten. Zehntausende leben in Flüchtlingslagern, Zelt an Zelt, zwölf bis 16 Personen unter einem Dach, in einer Enge, die jede Privatheit, jede Intimität verunmöglicht. Es sind Leute, die von den Almosen der internationalen Hilfsorganisationen abhängig sind und im übrigen nicht wissen, was sie den ganzen Tag über tun sollen. Die meisten sind Muslime, aber auch viele Kroaten und Serben sind der Hölle von Sarajevo, Gorazde, Brcko, Derventa, Odzac, Gradacac entflohen. In ihrer Mehrheit sind ihre Hände Arbeit gewohnt, doch mehr als ein bißchen Hausarbeit fällt im Lager nicht an.

Und es sind fast ausschließlich Frauen und Kinder. Denn Männer müssen alt, krank oder verletzt sein, sonst haben sie in Kroatien keine Chance, als Flüchtlinge aufgenommen zu werden. Wer unter 60 Jahre alt ist, gesund und unverletzt, muß an die Front, muß sein Vaterland verteidigen. Von den etwa 3.000 militärisch geschlagenen Soldaten, die vor zehn Tagen in der nordbosnischen Grenzstadt Bosanski Brod eintrafen, durfte die Hälfte ausreisen, die andere Hälfte lagert vor der gesperrten Grenze. Wenige Kilometer hinter ihnen ist die Front. Die 1.500 kriegsmüden Soldaten, die ausreisen durften, kamen bis zur slowenischen Grenze, dann versprach man ihnen, sie nach Italien ausreisen zu lassen, brachte sie aber nach Rijeka und von dort per Schiff nach Split — von wo sie wieder an die Front im Südwesten Bosniens transportiert werden sollen. Thomas Schmid