Ordentlichste Stadt der Republik

■ Mit Kiel feiert derzeit eine Stadt ihr 750. Jubiläum, die in ihrer heutigen Form gerade 50 Jahre existiert. Bombardements der Alliierten radierten den alten Stadtkern nahezu vollständig aus und...

feiert derzeit eine Stadt ihr

750. Jubiläum, die in ihrer heutigen Form grade

50 Jahre existiert. Bombardements der Alliierten

radierten den alten Stadtkern nahezu vollständig

aus und öffneten einem eigentümlichen Stilmix

der Nachkriegsarchitektur Tür und Tor.

Als der Sozialdemokrat Andreas Gayk 1946 zum ersten Kieler Bürgermeister nach dem Krieg gewählt wurde, stand er vor einer fast unlösbaren Aufgabe. 35 Prozent aller Wohnhäuser waren durch Luftangriffe der Alliierten auf die Reichsmarinestadt zerstört, 40 Prozent beschädigt und vielfach nicht wiederaufzubauen und nur 25 Prozent unversehrt. Die Altstadt war fast völlig zerstört. Und da die Briten den Hafen übernommen hatten, bot die industrielle Kieler Monokultur der Großwerften kaum noch Arbeitsplätze.

Die vordringliche Aufgabe zu der Zeit war, wie überall im zerstörten Europa, die Kriegsschäden zu beseitigen und Wohnraum zu schaffen. An den Wiederaufbau der Altstadt wurde dabei nicht gedacht. Schon seit den 20er Jahren waren die engen und verwinkelten Straßen des Stadtkerns den Planern ein Greuel gewesen. Bereits vor dem Krieg hatte es Bestrebungen gegeben, die Altstadt zu einem autofreundlichen Geschäftszentrum zu machen. Nun, wo nichts mehr stand, konnte hemmungslos geklotzt werden.

Die wesentliche Verantwortung für die Gestaltung der Stadt oblag zwei Männern mit scheinbar unterschiedlichem Hintergrund: dem Stadtbaurat Herbert Jensen und dem Leiter des Stadtplanungsamts H. Willig. Jensen war schon in den 30er und 40er Jahren mit der Kieler Stadtplanung beschäftigt, sein städtebauliches Ideal lag in den Kieler Traditionen der Gartenstadtarchitektur. Hingegen fühlte sich Willig der „neuen Sachlichkeit“ der 20er Jahre verbunden, hatte zuvor in

der Sowjetunion gearbeitet und stand Le Corbusier nahe.

Seit Ende des ersten Weltkriegs herrschte in Kiel die Heimatschutzarchitektur vor. Hinter diesem heute greulich anmutenden Begriff steht die Rückbesinnung auf regionale Elemente, wie schmuckloses Bauen mit Backstein und Fliesenelementen, als eine Absage an den wilhelminischen Historismus in der Architektur. Der Historismus kulminierte in Kiel im Bau des Rathauses, dessen Turm eine monströse Kopie des Campanile auf dem Markusplatz in Venedig darstellt, und der deutlich sichtbar den neuen Status der 1871 zum Reichskriegshafen erhobenen Provinzstadt aufzeigen sollte.

Die erste Einkaufsstraße in Deutschland

Die Kombination der backsteinernen Heimatschutzarchitektur mit der großzügigen Bebauung nach den Prinzipien der Gartenstadtarchitektur — in Hamburg beispielsweise in Dulsberg wiederzufinden — bestimmte sämtliche Neubauten im Vorkriegs-Kiel und ist so heute noch vielfach im Stadtbild enthalten. So besteht das in den 30er Jahren eingemeindete Elmschenhagen auch heute noch aus kasernenähnlichen roten Backsteinhäusern, die durch Gärten und Grünanlagen aufgelockert sind.

Auf diesen Traditionen wollte Jensen 1946 aufbauen. Ferner konnte er jetzt den Innenstadtbereich vollkommen neu und unabhängig von der alten Linienführung gestalten. Die eng und verwinkelt laufenden Straßenzüge, die den

Durchgangsverkehr behinderten und kaum Ausblick auf öffentliche Plätze gewährten, waren ihm schon in den 30er und 40er Jahren ein Dorn im Auge. Nun durfte er neue Straßen, wie etwa die heutige Andreas-Gayk-Straße anlegen, und somit dafür sorgen, daß der Verkehr durch eine neue weitläufig angelegte Innenstadt fließt. Die Wohngebiete wurden aus der Innenstadt ausgelagert. Mit der Neugestaltung der Holstenstraße entstand die erste Einkaufsstraße dieser Art in Deutschland. Die Innenstadt wurde mit repräsentativen Kastenbauten aus Beton gestaltet und muß heute wohl als architektonisches Zeugnis des frühen Wirtschaftswunders verstanden werden.

Betonfertigteile aus Trümmersplit herrschten in den ersten Nachkriegsjahren auch beim Wohnungsbau vor. Das war keine Absage an den ortstypischen Backsteinbau, sondern resultierte allein aus dem Mangel an Klinkersteinen. So entstanden in den Nachkriegsjahren, als schnelles und billiges Bauen zwingend notwendig war, vorwiegend schmucklose weiße Kästen. Der konsequente Neuaufbau der Stadt bewirkte, daß Andreas Gayk schon Ende der 40er Jahre von Kiel als „bestaufgeräumte Stadt Deutschlands“ sprechen konnte. Aber es war nicht mehr die ursprüngliche Stadt. Folgerichtig hieß in den 50er Jahren dann auch eine Broschüre über den Wiederaufbau der Stadt: „Kiel, die Bürger bauen eine neue Stadt“.

Der Stilmix wurde in den kommenden Jahrzenten um weitere Scheußlichkeiten erweitert. Die 70er Jahre machten sich durch Betonbauten wie die von der Autobahn sichtbare Mettenhof-Siedlung und den Olympiahafen Schilksee bemerkbar. Einkaufspassagen, wie der Sophienhof, dokumentieren architektonisch die 80er Jahre.

Tilly-Strümpfe statt Kanonenboote

Dem damaligen Zeitgeist entsprechend bemühte sich Bürgermeister Andreas Gayk, die alten Rüstungsschmieden durch sogenannte Friedensindustrie zu ersetzen, die bis dahin das wirtschaftliche Leben in Kiel beherrschten. Doch vorerst waren die Gebiete der alten Werften und Betriebe am Hafen durch die Engländer noch nicht freigegeben. Damals beabsichtigten die Unterzeichner des Potsdamer Abkommens, in Kiel nie wieder Marine und Rüstungsindustrie zuzulassen. Eine Meinung, die auch Sozialdemokrat Gayk vertrat. Auf seine Initiative hin siedelten sich auf dem Ostufer, dem Gelände der ehemaligen Rüstungsindustrie, Hersteller

von Möbeln, Talkum-Austauschstoffen, Garnen, Textilien, Marzipan, Dosen, Marmeladen, Registrierkassen, Radargeräten und Fernsehern an. Doch die friedliche Industrie brachte nicht genügend Arbeitsplätze. Einzig die später von der Firma „Elbeo“ übernommene „Tilly“-Strumpffabrik konnte sich bis in die 70er Jahre auf dem Gelände einer alten Waffenschmiede halten. Noch bevor 1956 die Bundeswehr nach Kiel zurückkam, wurden die Werften wieder freigegeben und neu aufgebaut.

Auch ein nach dem Weltkrieg gegründeter Seefischmarkt konnte sich nicht halten. Obwohl Kiel es schaffte, innerhalb kürzester Zeit zum viertgrößten Seefischhafen der Bundesrepublik zu werden, machten ausländische Konkurrenz und geänderte Eßgewohnheiten der Deutschen in den 70ern dieser Friedensindustrie den Garaus.

Bevor Kiel 1871 zur Reichsmarinestadt bestimmt wurde, war die heutige schleswig-holsteinische Landeshauptstadt eine mittlere Landstadt. Einzig die 1665 gegründete Universität unterschied die Fördestadt von anderen Hafenstädten des Landes. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts durch die Auflösung der Militärblöcke steht Kiel im 750. Jubiläumsjahr vor ähnlichen Problemen wie nach dem 2. Weltkrieg: Wieder muß mit der Marine einer der größten Arbeitgeber ersetzt werden. Bleibt zu hoffen, daß sich diesmal die Friedensindustrie durchsetzt. Kai Rehländer