Die richtige Dosis Schmierigkeit

■ Victor Roque y La Gran Manzana am Wochenende bei den Heimatklängen '92 im Tempodrom

Im fünften Jahr ihres Bestehens platzen die Heimatklänge, das Festival für Weltmusik in Berlin, aus den Nähten des Tempodroms. Was als verrückte Idee der Tempodrom-Chefin Irene Mössinger und des Piranha-Label-Managers Borkowsky Akbar mit einer kleinen selbstgezimmerten Bühne am Eingang des Geländes begann, hat sich ausgewachsen zur Massenveranstaltung. Das Konzept, unbekannte Bands aus fernen Ländern gleich an fünf Tagen hintereinander umsonst und draußen vorzustellen, ist aufgegangen wie ein Hefeteig, der den Ofen zur Explosion bringt. Die begeisterten Anhänger des schönen Scheins der Multikultur treten sich vor einem Zirkuszelt die Füße platt. Offenbar wollen die Kinder der Protestgeneration das schlechte Gewissen der Deutschen durch den Kauf von Gipsy-Kings-Platten tilgen.

Die Heimatklänge sind obendrein zum Berliner Exportschlager avanciert. Nachdem die Bands den »Carnevale Caribe '92« im Schutz der schallschluckenden Kurmuschel im Tiergarten abgefeiert haben, tragen sie die Mär von der Völkerverständigung durch alte und neue Länder. Man gastiert in Jena (dort mit speziellem Begleitschutz für farbige Musiker), bei der documenta Kassel, in Düsseldorf, Bochum und Recklinghausen. Die Lektion in Sachen Heimatklänge muß in der Republik erst noch eingeübt werden. Kommen in Berlin bis zu 3.000 Leute am Abend (würden die Bands nur einmal spielen, wäre die Waldbühne voll), waren es in Recklinghausen in der letzten Woche nur rund 800. Auch mit den Werkstattgesprächen soll es in Westdeutschland noch hapern, erzählt man hinter der Bühne.

Johannes Theurer, Weltmusik DJ beim SFB, der die Werkstattkonzerte am sonntäglichen Nachmittag moderiert und mit den Bands eine Plattensession einspielt, sieht wegen des großen Publikumsandrangs nur noch die Möglichkeit, das große Zelt des Tempodroms für die Heimatklänge abzubauen. Die Kapazität würde sich mehr als verdoppeln, andere Konzerte im Zelt wären dann aber nicht mehr möglich. Irene Mössinger scheint sich einfach zu freuen über den Erfolg, sollte sich aber ernsthaft überlegen, die Auto-Parkplätze in sichere Fahrradstellplätze umzuwandeln und die Plastikbecherflut einzudämmen. Borkowsky Akbar hatte vor dem Festival Alpträume, es käme einfach kein Mensch mehr — »von heute auf morgen kann eine Sache vorbei sein«. Inzwischen empfiehlt er allen, denen es zu eng im Tiergarten geworden ist, sonntags zur Fiesta im Wildgarten des Kulturhauses Treptow zu kommen.

Dachte man in den ersten drei Wochen dieses Festivals, den Programmachern ginge langsam die Puste aus und es kämen nur noch zweit bis drittklassige Tanzkapellen aus kubanischen Bierzelten, so wird man in dieser Woche einmal mehr überrascht. Victor Roque y La Gran Manzana aus Nueva York und der Dominikanischen Republik, zwölf Machos auf Reisen, die vor allem bei Frauen gut anzukommen scheinen, die aussehen, als würden sie notfalls ihr WG-Klo mit Waffengewalt gegen Stehend-Pisser verteidigen. Victor Roque und seine Truppe strahlen genau die richtige Dosis an Schmierigkeit aus, die für einen gelungenen Merengue-Abend notwendig zu sein scheint. Drei Eintänzer und Sänger im schwarzen Anzug, vier Bläser, Keyboards, Baß und Percussion entfalten einen satten, fetten Sound, der ein Mischmasch aus allen Stilen durch den Tiergarten bläst, die sich im Big Apple (La Gran Manzana) New York wie streunende Hunde an den Straßenecken paaren.

Victor Roque schreckt nicht vor Geschmacklosigkeiten zurück, und genau das macht ihn und seine Musik so sympathisch. »Africa — huah, huah, huah«, singt er und beruft sich gleichzeitig auf die afrikanischen Wurzeln seiner Musik. Die Band bedient sich schamlos im Supermercado der Musikkulturen — geöffnet 24 Stunden. Die mexikanischen Einwanderer werden — halb lustig, halb zynisch — zu Tex-Mex-Vertretern verwurstet.

Amerikanischer Country und Elvis Presley vermengen sich bei La Gran Manzana mit Cumbia aus Kolumbien zu einem Bastard-Merengue, der in die Knochen fährt. Das urbane Dschungelfieber erfaßt besonders die zahlreich erschienene Fangemeinde aus Puertoricanern, Dominikanern und Chicos aller Länder. Bei den Zugaben springen Frauen und Männer über die Absperrung, tanzen beckenkreisend mit den Sängern — das Publikum versinkt in einer tanzenden Merengue-Sexorgie. Oder wie die BZ so schön titelte: »Furien im Sambarausch«.

Hinter der Bühne gibt's Sekt für die Musiker, gefahndet wird weiter nach dem ersten Trompeter, der das Flugzeug aus Puerto Rico verpaßte, und man rätselt, ob die schwarze Schönheit an der Seite Roques, die mit im Flugzeug saß, nun wirklich Journalistin ist oder die Geliebte des Sängers. Oder beides. Andreas Becker

Victor Roque y La Gran Manzana bis Samstag um 21.30 Uhr, Sonntag um 16 Uhr im Tempodrom, Sonntag Heimatkino um 21.30 Uhr mit »Bananas« von Woody Allen.