Cervantes und der Streik

Auf dem Theaterfestival in Avignon geht's um Spanien, in Paris ums Sparen  ■ Von Jürgen Berger

Scipio ist ein Feldherr ohne Fortune. Seit 16 Jahren belagert er die spanische Stadt Numancia und hat sie fast ausgehungert, da begehen die Bürger der Stadt kollektiven Selbstmord. Scipio wird durch die Hintertür nach Rom zurückkehren, ohne Beute und Sklaven, während der historisch verbürgte Suizid zum spanischen Nationalmythos wurde. Miguel de Cervantes hat die Geschichte dramatisiert, damit aber genauso wenig Glück gehabt wie mit all seinen zwanzig Bühnenstücken. Mann kennt sie heute kaum, seinen „Don Quijote“ dafür um so mehr. Woran es liegen könnte?

In der „Belagerung von Numancia“ scheinen die Regisseure durch die antiken Ausmaße der Monologe abgeschreckt zu werden — den jungen französischen Regisseur Robert Cantarella allerdings, so sieht es aus, haben sie geradezu magisch angezogen. Er hat sich seit einem Jahr fest an die Stadt Marseille gebunden, inszenierte bisher hauptsächlich zeitgenössische Autoren und liefert mit seiner eigenwilligen Sicht auf das Cervantes-Stück seinen Beitrag zum diesjährigen Schwerpunkt des Theaterfestivals in Avignon. Es geht (wie könnte es im Kolumbus-Jahr anders sein) um Spanien, die Neue Welt und das goldene spanische Zeitalter im ausgehenden 16. und 17.Jahrhundert, das dem Welttheater die Stützpfeiler Lope de Vega und Calderon sowie den Außenseiter Cervantes bescherte. Sein Drama der Numancier ist im Kreuzgang des Carmeliterklosters zu sehen — auf einer Wasserbühne. Im Wasser werden die Toten gewaschen, über das Wasser laufen Schienen, auf denen jalousienartig Laufstege ausgefahren oder Plattformen zu eng umgrenzten, instabilen Spielmöglichkeiten zusammengefahren werden, während der genervte Feldherr Scipio auf einem Felsen hereinrollt und seiner müden Truppe Beine machen will.

Man könnte in einer Asterix-Groteske gelandet sein, in der sich die Numancier trotz Belagerung vorerst noch dekadent amüsieren. Es geht schrill zu. Daß die Inszenierung nicht in Klamauk abrutscht, ist der Regiekunst von Robert Cantarella zu verdanken, der das Geschehen ironisiert und persifliert, trotzdem aber immer die Menschen im Auge behält, die belagern und belagert werden. Wenn er den Dialog dreier Frauen als Zaubertrick gibt und sie im magischen Kasten verschwinden läßt, unterhalten sich drei sprechende Köpfe, und aus der Asterix- Groteske ist ein Beckett-Endspiel geworden. Drei Frauen, die das Geschehen nicht mehr so recht ernst nehmen. Manchmal hat Cantarellas Art der Inszenierung etwas von der Heftigkeit eines Castorf, er bleibt mit seiner Bühnenmischung aus Slapstick, Zauberei und genauer Figurenzeichnung aber immer hart an der Geschichte und folgt Cervantes selbst dann noch, wenn im schwergewichtigen letzten Teil der Kampf der Numancier gegen sich selbst beginnt. Der kollektiv beschlossene Selbstmord ist das eine, die individuelle Tat eine unmenschliche Zumutung. In der Inszenierung mischen sich immer mehr ruhige Töne ein.

Am Ende gab's eher verhaltenen Beifall, Cantarellas eigenwillige Sicht entsprach wohl nicht den Erwartungen. Nach dem Applaus verlas eine Schauspielerin eine Erklärung zu den Auseinandersetzungen, die das diesjährige Festival mehr bestimmen als manches Bühnenereignis: Es geht um die soziale Absicherung der freien Bühnenkünstler und -techniker, die nicht fest an die Theater gebunden sind (ohne die allerdings keine Inszenierung auf Frankreichs Bühnen käme) und denen Arbeitsministerin Martine Aubry ab September die Sozialleistungen kürzen will. Es sieht so aus, als sei das goldene französische Kulturzeitalter vorbei.

Daß die Bühnenkünstler das größte Theaterfestival der Welt als Forum nutzen und Front gegen die Pläne machen, stößt zum Teil auf harsche Gegenreaktionen. Das Publikum gibt sich ungehalten, während die Presse die Gewerkschaften angreift, die, so wird argumentiert, das Festival für ihre Zwecke mißbrauchten. Und als an einem Abend gar alle Vorstellungen abgesagt werden mußten, kam es vor dem Papstpalast zu erregten Diskussionen zwischen Zuschauern und freien Theaterkünstlern, die zum Teil für einen Streik an diesem Abend gestimmt hatten.

Seither laufen zwischen dem Pariser Arbeitsministerium und Avignon die Drähte heiß. Das Festival ist ein Nationalereignis — und jetzt das: An der Front des Papstpalastes hängt eine Fahne, auf der ein Totenschädel hinter einem Theatervorhang hervorsieht. Wenn die „Intermittents“ — so heißen Frankreichs Freie — sterben, ist das Theater am Ende, so wird argumentiert, und Alain Crombecque, der von Frankreichs Theatermachern hochgeschätzte Leiter des Festivals, befindet sich in einer schwierigen Situation. Gerade übergibt er die Geschäfte an seinen Nachfolger Bernhard Faivre d'Acier, da gerät ausgerechnet sein Abschiedsfestival durcheinander. Trotzdem, auch sein Name ist unter einem offenen Brief an die Arbeitsministerin zu finden, in dem es heißt, das Loch in der Staatskasse dürfe nicht auf Kosten der kulturellen Vielfalt gestopft werden. Die Petition wird von illustren Personen wie dem Autor Jean- Claude Carriere und dem Philosophen Paul Virilio getragen.

Der Streik erwischte auch den „Chevalier von Olmedo“, das Großereignis des diesjährigen Festivals. Die spanische „Romeo und Julia“- Version ist eines der über tausend Stücke Lope de Vegas, allerdings nicht eines der besten. Macht nichts, mag sich Lluis Pasqual gedacht haben, ein gutes Bühnenbild hilft darüber hinweg. Und tatsächlich. Der Nachfolger von Giorgio Strehler in der Leitung des Pariser „Odéon- ThéÛtre de l'Europe“ ließ sich von Ezio Frigerio ein hügeliges Weizenfeld in den Papstpalast bauen, setzte Jean-Marc Barr (wir kennen ihn aus Luc Bessons „Der Rausch der Tiefe“) auf ein Pferd, und seither reitet der Chevalier ausdauernd von Olmedo nach Medima, wo Donna Ines auf ihn wartet, und Don Rodrigo, der ihn am Ende meuchelt. Ganz Avignon spricht von diesem Weizenfeld, ansonsten wäre noch zu berichten, daß Pasqual in seiner biederen und deklamierenden Inszenierung einen derart schurkischen Don Rodrigo zeigen will, daß der arme Schauspieler gar schrecklich brüllen muß. Die Monumentalkulisse des Papstpalastes allerdings hat eine Akustik, die auch Kammerspieltöne zuläßt, wie man vor zwei Jahren in Jean-Pierre Vincents hervorragender Inszenierung von Molières „Scapin“ hören konnte. Dieses Jahr zeigt einzig Jean-Michel Dupuis als treuer und schlitzohriger Diener des Chevalier, was möglich gewesen wäre.

In Avignon geht es weiter mit Spanien. Das Thema ist in den Stücken der jungen Autoren zu finden, die dieses Jahr eingeladen wurden, und wenn am Ende getanzt wird, kommt Jean-Claude Gallotas „Don Juan“ in den Papstpalast.