Heißer Streiksommer in Polen

Bereits 23 Berggruben, die Beschäftigten der Autofabrik Tychy und die Arbeiter des Kupferreviers von Lueben standen gestern im Ausstand/ Zentrale Forderung der Kumpel: Aufhebung des Lohnstopps  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Mit 46 Bussen sind sie nach Warschau gekommen, um dem neuen Industrieminister ihre Meinung zu sagen. Direkt vor seinem Domizil kippen sie säckeweise Kohle aus, „für die Warschauer Rentner“ und zum Beweis, „daß unsere Kohle, die der Reichtum Polens ist, niemand will“. Über 1.000 Bergleute aus den Kattowitzer Gruben demonstrierten Dienstag vor dem polnischen Innenministerium. Zusammengerufen hatten sie die Gewerkschaften der Bergarbeiter, der ehemals kommunistische Dachverband OPZZ und Solidarność 80. Solidarność selbst war nicht mitgekommen. Sie hatte Ende letzter Woche für ihre Mitglieder einmalige Lohnerhöhungen zwischen 100.000 und einer Millionen Zloty (120 Mark) ausgehandelt. Für die Demonstranten, die laufende Lohnerhöhungen und die Abschaffung der Lohnzuwachssteuer fordern (gleichbedeutend mit der Aufhebung des Lohnstopps) ist die Sache klar: Das sei Verrat und ein Versuch der Regierung, die Protestbewegung zu spalten.

Doch von den Streiks in Polen werden immer neue Betriebe erfaßt. Allein in der Nacht zum Donnerstag gingen etwa 3.000 Bergleute aus der Steinkohlegrube „Zofiowka“ in den Ausstand. In der Hütte Kattowitz ist ein einstündiger Warnstreik geplant, und seit zwei Tagen stehen alle Räder auch in der Autofabrik in Tychy, seit Montag im Kupferrevier von Lueben still. Insgesamt streikten gestern bereits 23 Berggruben und der Rüstungskonzern „Mielec“.

Das Warschauer Ministerium wird inzwischen von Polizisten abgeschirmt. „Lipko her“, hallt es immer wieder über den Platz. Andrzej Lipko war Industrieminister unter Premier Olszewski und hatte den Kohleexport just zu der Zeit gestoppt, als Verträge für die Winterlieferungen abgeschlossen wurden. „Wir würden unser Geld schon verdienen“, meint ein erboster Bergarbeiter, „wenn uns die Bürokraten nicht dran hindern würden.“

Noch vor drei Jahren gehörten Polens Bergleute zu den Privilegierten: Ein mehrfaches des Durchschnittseinkommens, dazu Läden mit billiger „Defizitware“ — vom Kühlschrank bis Farbfernseher. Heute verdient man unter Tage zum Teil weniger als im Landesdurchschnitt. Die Läden sind abgeschafft und vielen Bergleuten droht die Arbeitslosigkeit.

„Polen ist nicht England und Suchocka ist nicht Thatcher“ steht auf einem der Demo-Plakate. Die Parallelen zum heißen Sommer, den Bergarbeiterführer Artur Scargill seinerzeit Margaret Thatcher bereitet, drängen sich dennoch auf. Der Chef der polnischen Bergarbeitergewerkschaft, Rajmund Moryc, erklärt allerdings: „Wir machen nur Warnstreiks. Der Generalstreik hat damals Scargill das Genick gebrochen, daraus haben wir gelernt.“

Trotzdem wird es die Regierung nicht leicht haben. Denn neben der kompromißwilligen Solidarność sind inzwischen vier Gewerkschaftszentralen und zahlreiche kleinere Branchengewerkschaften entstanden: Moryc' Bergarbeitergewerkschaft, die sich letztes Jahr aus dem ehemals kommunistischen OPZZ- Dachverband verabschiedete (370.000 MItglieder), die „Gewerkschaft der Bergarbeiter in Polen“ (30.000 Mitglieder) und die „Solidarność 80“, eine radikale, antikommunistische Neugründung, die als Protest gegen den Runden Tisch 1989 und gegen Walesas politische Linie entstand. Alle drei zusammen wittern nun ihre Chance, sich auf Kosten von Solidarność zu profilieren. Da Solidarność weiter auf Vermittlungskurs bleibt, kann sie nicht verhindern das radikale Mitglieder zur Konkurrenz laufen.

Mehr und mehr zeigen sich auch Anzeichen für eine Wiederholung des Tyminski-Phänomens von 1991, als der völliger Außenseiter bei den Präsidentschaftswahlen durch geschicktes Ausnutzen der Unzufriedenheit der Bevölkerung und mit einer gewaltigen Dosis Populismus das zweitbeste Wahlergebnis erzielte. Mit dem gleichen Rezept versucht das „Bündnis Selbstverteidigung“, die Partei der radikalen Bauern, jetzt beim Bergarbeiterstreik Fuß zu fassen. Vor den Kumpeln verlangte „Bündnis“-Chef Andrzej Lepper Neuwahlen auf allen Ebenen „vom Aufsichtsrat bis zum Parlament“. Auf der Tyminski-Welle versucht auch Ex-Premier Olszewski mit seiner neugegründeten Rechtsaußenpartei zu reiten. Alle Übel Polens werden damit erklärt, daß die ehemals kommunistischen Agenten und Spitzel noch nicht demaskiert seien. Zu ihm wird vorraussichtlich ein Teil der Basis der an der Regierung beteiligten Christnationalen stoßen, nachdem diese ihren Vizevorsitzenden Antoni Macierewicz im Zusammenhang mit der polnischen Stasi-Debatte aus der Partei geworfen haben.

Damit kündigt sich eine Art breites Anti-Reform-Bündnis auf der äußersten Rechten an, was nicht heißt, daß dieses keine Berührungspunkte mit den Gewerkschaften haben wird. Ihr Antikommunismus hinderte die Gewerkschafter der „Solidarność 80“ jedenfalls nicht, zusammen mit den exkommunistischen Bergarbeitern von Rajmund Moryc zu protestieren.