Heute ist ein besonderer Tag

■ Akteure der spanischen Truppe »La Fura del Baus« spielen ihr Stück »Radio Carburante« im Tacheles

Der Theatersaal im Tacheles liegt in schummrigem Dunkel. Erst nach und nach werden die Konturen des Bühnenaufbaus deutlich erkennbar. Vier Podeste, alle nicht größer als zwei bis drei Quadratmeter, sind im Raum verteilt. Der Boden ist mit Stroh ausgelegt; das Scharren unserer Füße verursacht Geräusche, die Kindheitserinnerungen wachrufen. Dumpfe Verstärkertöne mischen sich mit dem Schafgeblöke. Sitzplätze gibt es keine, Zuschauer gehen durch den Raum und nehmen diesen in Besitz. Gefangengenommen von dieser fast geheimnisvollen Atmosphäre, stellt sich ein Gemeinschaftsgefühl her, dem man sich nur schwer entziehen kann. Sie fasziniert und verursacht gleichzeitig ein ungutes Gefühl.

Drei der kleinen Bühnen befinden sich auf einer Ebene, die vierte liegt wesentlich höher. Die vier Schauspieler, zwei Männer, zwei Frauen hocken in verkrampften Stellungen auf deformierten Möbelstücken. Während des »Vorspiels« verändern sie ihre Positionen. Die Körper wirken wie Gliederpuppen, die man in jeder beliebigen Richtung bewegen kann. Sie befinden sich in einem tranceartigen Zustand, aus dem sie erwachen, als ohrenbetäubende Musik einsetzt. Während die Band, die hinter einer Plastikfolie verborgen ist, noch spielt, erhebt sich der Schauspieler auf dem höchsten Podest und eröffnet das Spiel. Die Geschichte, die in der nächsten Dreiviertelstunde erzählt wird, ist eine Geschichte von Manipulation einerseits und hemmungsloser Öffnung andererseits.

Das Stück heißt Radio Carburante und wird von Schauspielern der spanischen Truppe »La Fura del Baus« (in Berlin war diese Truppe schon mehrmals zu sehen) gezeigt, die es unter dem Gruppennamen »Es Carburador Es« zusammen entwickelt haben. Carburante heißt soviel wie Verbrennungsmotor. Die Mitglieder der Truppe assoziieren damit einen Vorgang, in dem Energie freigesetzt und genutzt wird. Die Grenzen von Realität und Traum sind aufgehoben. Dieser Prozeß wird von einem Radiosprecher gesteuert, der direkt in das Leben seiner Hörer eingreift. Der Schauspieler, der eine ausgesprochen diabolische Wirkung hat und wie ein Racheengel über uns allen zu schweben scheint, ist kein Radiosprecher von der normalen Art. Auch sein Radioprogramm ist nicht das, welches man morgens nach dem Aufstehen zu hören gewohnt ist. Mit schnarrender Stiimme, die klingt, als würde man mit Fingernägeln auf einer Schiefertafel kratzen, verkündet er sein Programm: Heute ist ein besonderer Tag, heute werden besondere Dinge geschehen. Die beiden Frauen und der Mann auf den anderen Bühnen nehmen diese Stimme auf und reagieren auf unterschiedliche Weise. Die Stimme bringt sie dazu, skurrile Handlungen zu vollziehen, die gleichnishaft für jeden Zuschauer etwas anderes bedeuten mögen. Voneinander isoliert, gibt es doch eine Verbindung zwischen ihnen, die durch den sich ständig bewegenden Pulk der Zuschauer aufrechtgehalten wird. Nacheinander werden sie vom Radiosprecher aufgefordert, sie selbst zu sein, ihre Ängste zu überwinden und das zu tun, was sie sich schon immer gewünscht haben. Während eine Szene abläuft, bleiben die anderen Podeste im Halbdunkel liegen, und es gelingt den jeweiligen Darstellern, die Aufmerksamkeit vollständig auf sich zu ziehen. Sprache wird unwichtig. Das meiste ist schon akustisch schwer zu verstehen. Die englischen, deutschen und spanischen Texte beschränken sich auf die allernötigsten Informationen.

Eine Frau, deren Raum mit Schauspielerfotos aus Illustrierten geschmückt ist, beginnt ihren Tag damit, daß sie vor dem Spiegel verschiedene Posen ausprobiert. Sie versteckt ihren riesengroßen Busen hinter einer roten Federboa, genießt einerseits ihre gemachte Schönheit, zeigt aber gleichzeitig ihre Verlegenheit und Scham. Hastig nimmt sie ihr Alltagskleid vom Haken und zieht es über, so als wollte sie ihre vorherigen Handlungen vergessen machen. Die Stimme des Radiosprechers läßt sie innehalten. Er bringt sie dazu, sich dieses schreckliche Kleid wieder auszuziehen; sie entkleidet sich völlig, seift mit langsamen, immer genußvoller werdenden Bewegungen ihren Oberkörper ein und beginnt, ihn zu rasieren. Ihre Freude an dieser lang andauernden Handlung, ihr Einssein mit ihrem Körper wird im Raum spürbar.

Durch Musik und Lichtwechsel wird die Aufmerksamkeit auf die Bühne gegenüber gelenkt. Dort nimmt sich ein Mann ein riesiges Schlachtermesser und schneidet Zwiebel auf Zwiebel in eine Schüssel. Seine erst langsamen Bewegungen werden immer hastiger und brutaler, der Zwiebelsaft treibt ihm die Tränen in die Augen, aber das allein macht seinen Schmerz nicht aus. Er schüttet die Schüssel über sich aus und zerreibt die Zwiebelstückchen auf seinem Körper. An einem Drahtseil kommt vom Radio eine Puppe angesaust, und im Licht eines Zerhackers windet sich der Mann wie unter Qualen, umklammert er die Puppe, stößt sie von sich. Mord, Selbstmord, leidenschaftliches Begehren? Die Zuschauer sehnen das Ende dieser Szene herbei.

Die dritte Szene erzählt von einer Frau, die sich zu ihrer vielleicht schwierigen, vielleicht aussichtslosen Liebe bekennt. Über ihrem grauen T-Shirt trägt sie, nur halb angezogen, ein Brautkleid. Es ist vom vielen An- und Ausziehen zerfleddert. Erst als ihr von oben ein Schleier geschickt wird, hat sie den Mut, das Kleid vollständig anzuziehen. Glückselig dreht sie sich im Kreis, beflügelt von ihrer Verkleidung, schreit sie ihre Befreiung laut heraus. Die Musik wird wieder heftiger und bringt fast die Trommelfelle zum Platzen. Dann Stille. Die Frau hält inne, sucht nach der Stimme, sucht nach ihrem Halt, dreht verzweifelt an den Knöpfen des Radios. Aber da ist nichts mehr. Die Braut legt den Schleier und das Kleid wieder ab, nimmt einen Teller, der ihr gereicht wird, entgegen und beginnt zu essen. Der stinknormale Alltag hat sie wieder. Radio Carburante hat aufgehört zu senden.

Die Bühnen verschwinden im Dunkel; kurz und sehr grell leuchten die Scheinwerfer in die Zuschauermasse hinein. Das Blöken der Schafe vom Anfang ist wieder zu hören. Vielleicht hören wir morgen früh, wenn wir das Radio anmachen, nicht die netten Stimmen unserer bekannten Sprecher. Vielleicht sind morgen wir dran. Sibylle Burkert

»Radio Carburante«, bis zum 2.8., jeweils 21.00 Uhr, im Tacheles, Oranienburger Straße.