»In Bonn müssen Wände wackeln«

■ Initiativgruppe zur Gründung eines Komitees für Gerechtigkeit im Prenzlauer Berg konstituierte sich/ Alle organisatorischen und inhaltlichen Fragen blieben offen/ Am Dienstag geht es weiter

Prenzlauer Berg. Die Stimmung, die am vergangenen Donnerstag im Bezirk Prenzlauer Berg bei der »Gründung einer Initiativgruppe zur Gründung eines Komitees für Gerechtigkeit« herrschte, könnte kaum besser auf den Punkt gebracht sein, als mit einem Zitat frei nach Lenin: »Bevor die Deutschen eine Revolution machen, lösen sie erstmal eine Bahnsteig-Karte«.

Rund 30 Männer und Frauen hatten sich bei Plätzchen und Tee zusammengefunden, um den »Bonner Ultras« endlich Beine zu machen. Ort der Begegnung war das Wohnzimmer des 62jährigen Historikers und Politologen Manfred Behrend in einem an der Artur-Becker-Straße gelegenen 50iger Jahre AWG-Wohnblock, der einmal »Neues Deutschland« hieß. Das ältere Semester hatte mit einem geschätzten Durchschittsalter von 45 bis 50 Jahren deutlich die Oberhand. Aber auch die ganz Alten und die Jungen waren vertreten: Ein 76jähriger früherer Journalist für Außenpolitik beim DDR-Rundfunk, sechs junge Männer und eine Frau vom Sozialistischen Jugendverband, so um die 16 bis 25 Jahre alt.

Organisiert hatte die Initiativ- Gruppen-Gründungsveranstaltung der 52jährige Ingenieur und langjährige ehrenamtliche Sportfunktiönar Horst Kalo, der an diesem Abend auch das Wort führte und sich nach besten Kräften bemühte, dem geplanten Vorhaben eine Struktur zu geben. Vergebens. Egal, was Kalo vorschlug, sei es die Probleme des Bezirks aufzulisten und Arbeitsgruppen zu bilden, eine Sprechergruppe zu benennen oder spontan in der Runde Geld für Öffentlichkeitsarbeit zu sammeln, immer fand irgend jemand ein Haar in der Suppe, wußte es besser, und die Sache wurde zerredet. Schließlich platzte Kalo der Kragen, aber auch das nutzte ihm nichts: »Leute, ihr habt keine Ahnung, was es bedeutet, eine Organisation aufzubauen. Daran sind schon viele Bürgerforen gescheitert«. Die Mehrheit forderte nur eins: »massenhaften Widerstand«, denn geredet worden sei genug. »Es muß wieder so werden wie zur Wende. Wir wollen Sprengsätze sein und demonstrieren, wofür oder wogegen die Leute sind, das kommt schon von selbst«, rief ein junger Fotograf.

»In Bonn müssen so die Wände wackeln, daß die Angst um ihr Kanzleramt bekommen«, stimmte eine Frau um die 45 zu. »Aber ohne jede Gewalt«, forderte ihre Nachbarin und erntete dafür große Zustimmung. »Aber man kann Eier und Tomaten werfen, oder noch besser Vereinigungsobst: Bananen!« ergriff ihre Vorrednerin wieder das Wort.

»Aber das sind auch schon Waffen«, mokierte sich ein auf dem Fußboden sitzender junger Punk vom SJV. Daß er sich von harmlosen Aktionen nichts verspricht, ließ er jedoch nur sehr vorsichtig durchblicken, indem er über den Unterschied zwischen Protest und Widerstand dozierte: »Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß es nicht mehr länger geschieht«.

Der Hausherr Manfred Behrend hatte sich bei der Debatte im Hintergrund gehalten. Der beleibte 62jährige Historiker, mit Brille und Bart, der am Kinn spitz mündet, hatte sich zu Beginn der Sitzung ausführlich vorgestellt. Er sei früher am Institut für internationale Politik und Wirtschaft tätig gewesen, das 1990 »krachen gelassen wurde«, und befände sich seither im Vorruhestand.

Sein Fachgebiet sei Konservativismus und Neofaschismus, dissertiert habe er über Franz Josef Strauß. Anschließend verlas er ein von ihm formuliertes, vierseitiges, eng mit Schreibmaschine beschriebenes Papier, in dem er begründete, warum ein Komitee für Gerechtigkeit erforderlich sei: Die Ursachen lägen »nicht in Profilieriungssucht oder in irgendeinem finsteren Ränkespiel der PDS oder gar der längst toten Stasi«, las Behrend im Bürokratenstil, der durchaus an alte Zeiten erinnerte.

Der Grund sei schlicht und ergreifend, »dem Bonner Kurs Paroli zu bieten«, indem der »Zerschlagung der Wirtschaft«, dem »Verhökern der Betriebe zu 1-DM-Preisen« und der Umwandlung von Milliardenwerten durch die Treuhand in Schulden entgegengetreten werde. Behrend sprach von der größten Massenarbeitslosigkeit und dem größten Bauernlegen in der Geschichte Deuschlands, empörte sich über die »Unterstellung unter westliche Vorgesetzte, bei denen sich Arroganz mit Inkompetenz paart«. »Der zu erreichende Wandel«, meinte er jedoch, könne aber «nicht die Rückkehr zu DDR-Zuständen sein.

»Heute und auf unabsehbare Zeit können wir die Rekapitalisierung nicht zurückdrehen, schon gar nicht den Kapitalismus stürzen«, so Behrend, der bis zur Wende Mitglied der SED und danach in der PDS war. Letzere verließ er eigenen Angaben zufolge empört, als Modrow mit der Nachricht aus Moskau zurückkehrte: »Deutschland einig Vaterland«. Er sei immer ein hartnäckiger Gegner der Wiedervereinigung gewesen.

Punkt zehn Uhr war Zapfenstreich. Zuvor hatte eine Frau ihrer Nachbarin schon mehrfach besorgt zugeraunt, daß man allmählich aufhören müsse, weil sonst die Nachbarn gestört würden. Die Fragen der Arbeitsgruppen, Wahl einer Sprechergruppe und Geldsammeln wurde vertagt.

Vielleicht dürfe man gar nicht so ohne weiteres Geld sammeln, hatten sich einige Anwesende gesorgt. Auch ob man einfach Einladungen an Bäume und Häuser kleben dürfe, bereitete einiges Kopfzerbrechen. Einig war man sich am Ende der Sitzung immerhin über eins: Am kommenden Dienstag um 20 Uhr im Planetarium in der Prenzlauer Allee 60 bis 80, wo das eigentliche Komitee für Gerechtigkeit aus der Taufe gehoben wird, soll es richtig losgehen. Plutonia Plarre