»Nicht über neues Unrecht schweigen«

■ Trauerfeier für Heinz Galinski/ Verpflichtung zur Politik kam aus der Erfahrung von Auschwitz/ Kanzler lobt »Verdienste um Deutschland«

Berlin. »Es ist alter jüdischer Brauch, den Toten um Verzeihung zu bitten für alles, was man ihm angetan hat«, sagte Rabbiner Ernst Stein. Eine kurze Schweigeminute, dann wurde der Sarg von Heinz Galinski zum Grab unter Fichten und Kiefern direkt hinterm Eingangstor gefahren. Einige hundert Menschen waren gestern zum Friedhof an die Heerstraße gekommen, um Abschied vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland zu nehmen.

»Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um bei neuem Unrecht zu schweigen.« Diesen Satz Heinz Galinskis zitierten fast alle Redner auf der vorhergehenden Trauerfeier in der Fasanenstraße — aber ihr Umgehen mit dieser existentiellen Erfahrung Heinz Galinskis war sehr unterschiedlich. »Er wurde zum Untermenschen, zum Unmenschen, zum Material für die Tötungsmaschine gemacht— gestempelt mit der Nummer 104412 in den linken Arm — wie ein Stück Vieh«, beschrieb der israelische Botschafter Benjamin Navon am drastischsten das, was Galinski zur Zeit des Nationalsozialismus erfahren mußte. Die Schlußfolgerung, die er als einer der wenigen Überlebenden zog, war ein klares »Nein zur Assimilation und ein Ja zum Dialog«. Er verstand sich als Jude und als Deutscher. Und er war ein Feindbild für die, die »den Nationalsozialismus als bedauerlichen Ausrutscher wegwischen wollten,« so Navon. Galinski habe sich selbst als Mahnmal bezeichnet; in seinem Leben aber sei auch »das Prinzip Hoffnung«, meinte der israelische Botschafter in Deutschland.

Der Auschwitzüberlebende und Stellvertreter Galinskis in der jüdischen Gemeinde, Jerzy Kanal, beschrieb die Bedeutung des Holocaust für Galinskis Leben: »Eine seiner wichtigsten Maximen war immer gewesen: nach der Schoah darf die jüdische Gemeinschaft nicht unpolitisch bleiben.« Darunter habe Galinski außer dem Protest gegen Antisemitismus und Rassismus auch die Verpflichtung jedes Juden verstanden, sich mit dem Staat Israel zu solidarisieren. Helmut Kohl hingegen sprach nicht über die innere Verpflichtung und Gebundenheit, die Galinski zur Vergangenheit empfand, sondern über »das Glück, daß er diesem schrecklichen Schicksal nicht zum Opfer fiel«. Kohl betonte in seiner Rede vor allem die Verdienste Galinskis an der Wiederherstellung des guten Rufs Deutschlands. »Die jüdische Gemeinde hat dazu beigetragen, daß Deutschland wieder ein gleichberechtigter Partner in der Welt ist.« Er lobte den verstorbenen als engagierten Demokraten und aufrechten Patrioten.

Auch der Regierende Bürgermeister Diepgen erkannte in der KZ-Erfahrung Galinskis nicht die Ursache seines unermüdlichen und unbestechlichen Erinnerns. »Das Leid hatte ihn nicht gebrochen, sondern ihm die Kraft gegeben, beim Aufbau einer neuen, demokratischen und freiheitlichen Ordnung mitzuwirken.« Galinski habe Berlin immer in Schutz genommen, wenn »falsches Zeugnis abgelegt wurde, wenn Argwohn und Mißtrauen ihm ungerechtfertigt erschienen.« Negativ schien in Diepgens Rede aber die Schärfe und Kompromißlosigkeit Galinskis auf: Er habe es sich und anderen als wachsamer Mahner nicht immer leicht gemacht. »Sein Wort galt, auch wenn es oft sehr scharf war, weil es auf einer unbeirrbaren Überzeugung beruhte.« Max Willner, Stellvertretender Vorsitzender des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte Galinski in Auschwitz kennengelernt: »Wir waren zwei Sklaven, deren Leben damals nicht besonders hoch im Kurs stand.« Näher an seine Gefühle heran konnte Willner an dieser Stelle offenbar nicht gehen. Galinski habe sich daran gewöhnt, schon fast als Institution zu gelten, deren Stimme sich fast automatisch nach bestimmten Ereignissen erhob. »Und man könnte sagen, er hat seine Aufgaben mit fast preußischer Pflichterfüllung verfolgt — wenn dieser Ausdruck für uns Juden nicht einen so furchtbaren Beigeschmack hätte.« Willner wies darauf hin, daß Galinski insbesondere in den letzten Jahren nach der Wiedervereinigung die wachsende Fremdenfeindlichkeit und den Antisemitismus mit großer Trauer und Beunruhigung wahrgenommen habe. In den letzten 15 Jahren habe Galinski sich nicht mehr ohne Leibwache auf die Straße trauen können.

Und auch bei seiner Trauerfeier und der Beerdigung war die Polizei massiv präsent. Doch die jüdische Gemeinde wollte nicht im verborgenen Abschied nehmen von dem Mann, dem sie ihren Aufbau verdankt: deshalb wurden die Redner vor den Fahnen Israels, Deutschland und Berlins mit Monitoren und Lautsprechern auf die Straße übertragen. Annette Jensen