Verdammte Lügner

Journalisten in Haiti: Gefoltert, ermordet und auf Müllkippen entsorgt Die Repression richtet sich vor allem gegen Radios  ■ Von Kim Brice

Am 29. September 1991 um 23.15 Uhr wurde der Direktor von Haitis Regierungssender „Radio Nationale“ durch den Nationalpalast angewiesen, seine Hörerschaft auf einen unmittelbar bevorstehenden Putsch vorzubereiten. Michel Favard wählte ein kreolisches Sprichwort, um die Bevölkerung zum Widerstand gegen den blutigen Angriff auf Haitis ersten demokratisch gewählten Präsidenten, Jean- Bertrand Aristide, aufzurufen: „Wer seinen Mais an der Sonne trocknet, muß nach Regen Ausschau halten.“

Eine halbe Stunde später brach der Telefonkontakt mit Radio Nationale zusammen, Favard wurde in Handschellen abgeführt und von sieben Soldaten zur Polizeistation „Cafeteria“ nach Port-au-Prince gefahren. In den nächsten zwei Tagen konnte Favard miterleben, wie sich die Soldaten mit Waffen und Munition für ihre Missionen eindeckten und dann prahlend von ihren blutigen Einsätzen zurückkehrten. Zu dieser Zeit war Favard besser über den Putsch informiert als alle anderen. Die Radiosender waren besetzt und geschlossen, und Gerüchte von der Ermordung des Journalisten Jaques Gary Semeon durch Soldaten, die ihn gefoltert und schwer mißhandelt hatten, terrorisierten seine Kollegen, so daß sie verstummten.

Die Repression seit dem Putsch richtete sich weniger gegen die Printmedien als gegen die Radiosender. Bisher sind zwei Radiojournalisten umgebracht worden, einer ist „verschwunden“, und viele andere sind verhaftet und zusammengeschlagen worden. Nicht wenige Journalisten haben das Land verlassen, und viele halten sich weiterhin versteckt.

Am 10. Dezember wurde Felix Lamy, Direktor des Senders „Radio Galaxie“, aus seinem Büro gekidnappt — bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Damals war Radio Galaxie buchstäblich das einzige Medium, das in Port-au-Prince noch Nachrichten sendete. Nur zwei Wochen später verschwand Montlouis Lherisse, Kameramann des Regierungsfernsehens „Television Nationale“. Zum letzten Mal wurde er auf einer Jubiläumsparty seines Senders lebend gesehen. Wenige Tage später fand man seinen von Kugeln durchsiebten Körper in Titanyen, einer Müllkippe im Norden von Port- au-Prince, wo man sich auch unter Duvalier schon der Leichen von Oppositionellen entledigt hatte.

Auch gewalttätige Übergriffe und Drohungen sind an der Tagesordnung für Haitis Journalisten. Am 12.April — ausgerechnet an dem Tag, an dem der jetzige Präsident des Landes, Joseph Nerette, erklärt hatte, die Presse in Haiti sei frei — wurde ein freier Mitarbeiter von „Radio Tropic FM“, Sony Esteus, von drei Männern in Zivil entführt — er hatte kurz zuvor über eine Demonstration gegen die Regierung berichtet. Man brachte ihn zunächst zum Polizeihauptquartier, dann zur Abteilung Verbrechens- und Bandenbekämpfung, wo er von zehn Männern geschlagen und mißhandelt wurde. Als er versuchte, sich mit den Armen vor den Schlägen zu schützen, wurden sie ihm gebrochen. Während sie ihn schlugen, redeten Polizisten auf ihn ein und beschuldigten Radio Tropic FM, zur Revolution aufgerufen zu haben. Nach diesem Überfall auf Esteus befahl der Direktor von Tropic FM seinen Mitarbeitern, zur eigenen Sicherheit ihre Pressekarten nicht mehr bei sich zu tragen.

Jean-Mario Paul, ein Korrespondent von „Radio Antilles“, wurde im November 1991 verhaftet; in den Faustin-Soulouque-Militärbaracken in Petit Goave, einem kleinen Städtchen südwestlich von Port-au- Prince, mußte er sich auf den Boden legen. 15 Männer stellten sich auf ihn und trampelten auf ihm herum. Im Laufe seiner fünfmonatigen Haft zwangen ihn die Soldaten mehrfach in die „Schuldkrötenposition“: Sie banden ihm die Knie auf die Brust und schlugen auf den straff gespannten Rücken und Hintern ein.

Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet Radiojournalisten zur Zielscheibe der Repression nach dem Putsch wurden. Ein Journalist, der anonym bleiben wollte, sagte uns: „Es war eines der Putschziele, die populären Bewegungen zu zerschlagen und damit auch ihre Instrumente, die Radiosender.“

Die Wirkung dieser Repression ist besonders verheerend, weil die Radiosender in den fünf Jahren zwischen Duvaliers Fall und dem Putsch gegen Aristide — als freie Meinungsäußerung mehr toleriert wurde — eine besonders wichtige Rolle gespielt haben. Sie waren es, die eine zum großen Teil analphabetische und marginalisierte Bevölkerung aus ihrer politischen Isolation befreiten.

Unter Aristide blühten Nachrichtensendungen in den Radios auf. Zwar dominierten weiterhin Talk- Shows die Szene, aber immerhin gaben auch sie den Haitianern die Möglichkeit, offene Debatten über wichtige Themen anzuhören. Eine politische Berichterstattung wagen heute kaum noch einige wenige der ehemals 49 haitianischen Sender, die auch Nachrichten brachten. Nur fünf von fünfundzwanzig Sendern haben seit dem Putsch in Port-au-Prince weitergemacht.

Die gegenwärtige Regierung gibt offen zu, daß Repression und Einschüchterung gegenüber der Presse existieren, weigert sich jedoch, etwas dagegen zu unternehmen. Der ehemalige Anwalt für Menschenrechte, Jean-Jaques Honorat, der bis Juni dieses Jahres Haitis Premierminister war, machte sich keineswegs besondere Sorgen über diesen Zustand. In einem Interview sagte Honorat vor kurzem: „Es gibt keine Presse hier, aber das sind sowieso nur kleine Teufel und verdammte Lügner“, und bewies so kaum mehr als Verachtung für die Medienleute seines Landes.

Honorat wendet sich zwar offiziell gegen Gewalt, verharmlost sie aber andererseits als „tpyisches Verhalten“ einer „intoleranten“ und durch die Kolonialisierung „traumatisierten“ Gesellschaft. Seiner Meinung nach hat er Haiti vor einem Bürgerkrieg geschützt, der, wie er sagt, durch Aristide ausgelöst wurde. „Die vergangenen sieben Monate waren die einzige friedliche Zeit in Haiti seit Jean-Claude Duvaliers Abgang“, so Honorat.

Die meisten Journalisten sind da anderer Meinung. Sie behaupten, daß das derzeitige politische Klima schlechter sei als unter Duvalier. Zwar gab es damals keine Pressefreiheit, aber, so der haitianische Korrespondent einer ausländischen Nachrichtenorganisation, „die Repression ist jetzt schärfer und die Kontrolle sehr gründlich geworden, nie zuvor sind derart viele Radiosender für so lange Strafzeiten zwangsweise geschlossen worden“.

Die Sicherheitskräfte haben auch versucht, den Informationsfluß aus Haiti heraus zu stoppen. Im Februar dieses Jahres wurden Reporter des (US-amerikanischen) „National Public Radio“ und der Chicago Tribune von Soldaten festgesetzt und mit dem Tode bedroht. Anfang Mai konfiszierte das Informationsministerium ohne Angabe von Gründen Reisepaß und Akkreditierung von Dominique Levanti.

Levanti, Bürochef von „Agence France Press“, bezeichnet sich selbst als „Stimme des Ausgleichs“, aber das gegenwärtige Regime denkt offenbar etwas anders über ihn. Informationsminister Gerard Bissainthe beschuldigt Levanti, den „Mythos Aristide verbreitet“ und „gegen die Regierung gerichtete Berichte“ publiziert zu haben. AFP ist in Haiti besonders wichtig, weil selbst die lokalen Medien häufig lieber AFP zitieren, als eigene Berichte über „sensible“ Themen in Auftrag zu geben.

Der Schatten der Repression reicht selbst bis in den Nachbarstaat der Dominikanischen Republik. Im Februar dieses Jahres wurde das kreolischsprachige „Radio Enriquillo“ dort verboten, nachdem sich Haiti bei der dominikanischen Regierung über „subversive Slogans“ und „Unruhestifterei“ beschwert hatte. Einige Journalisten des Senders haben sich jedoch etwas einfallen lassen: Sie verstecken bestimmte Nachrichten in den Liedern, die über den Äther gehen.

Kim Brice ist Recherchejournalistin für das Komitee zum Schutz von Journalisten (Committee to Protect Journalists), New York. Für einen Sonderbericht des Komitees hielt sie sich im Mai in Haiti auf.