Volles Haus beim Familientreffen

■ Dieses Jahr fehlt keiner in der Runde der olympischen Großfamilie. Selbst die Südafrikaner und die Serben sind mit von der Partie. 16 Tage lang werden die SportlerInnen den Familienserien im Fernsehen...

Volles Haus beim Familientreffen Dieses Jahr fehlt keiner in der Runde der olympischen Großfamilie. Selbst die Südafrikaner und die Serben sind mit von der Partie. 16 Tage lang werden die SportlerInnen den Familienserien im Fernsehen den Rang ablaufen.

Samstag nacht, 23 Uhr, Barcelona: Ein Bogenschütze bringt seinen Rollstuhl in Stellung, spannt die Sehne und schießt einen Feuerpfeil in den Himmel der katalanischen Hauptstadt. Sechzig Meter später ist die Schüssel über dem Olympiastadion und die gesamte olympische Familie Feuer und Flamme: Die Spiele 1992 sind eröffnet, willkommen zum langersehnten Sippentreff, dem größten Werbespektakel der Welt.

Die olympische Familie ist wie fürs Fernsehen gemacht: eine Kreuzung aus den biederen „Waltons“ und den skandalumwitterten Dallas- Ölmultis „Ewings“, den „Golden Girls“ und der „Klimbim-Familie“. 840 Millionen Mark nahm das Barceloneser Organisationskomitee COOB für die Fernsehübertragung der zweiwöchigen Serie ein, die alle Einschaltquotenrekorde brechen wird. 120.000 dieser illustren Familienmitglieder sind in Barcelona angekündigt: Sportler, Funktionäre, Sponsoren und Journalisten.

Die Sportler aus 172 Nationen, die in 25 Sportarten und 257 Disziplinen Medaillen holen wollen, sind die anständigsten Familienmitglieder — die John-Boys und Bobby Ewings der Körperkultur. Eifrig, redlich, vom Geruch ehrlichen Schweißes umgeben und offen für alle. Da trifft der unbekannte Amateur-Judoka die Glitzerstars der Leichtathletik, da wohnt Seglerin Peggy Hardwiger plötzlich mit Steffi Graf in einer Kommune. Und selbst Boris Becker schätzt die Körpererfahrung, statt im Nobelhotel in den engen, unklimatisierten 4- bis 12-Bett-Appartements mit einem kleinen Bad für alle zu hausen. Da kommt man sich näher, da darf man Mensch sein, da trifft sich die Jugend der Welt zum friedlichen Zähneputzen.

Im olympischen Dorf, das nur vier U-Bahn-Stationen vom Stadtkern entfernt und direkt am Olympiahafen liegt, sind 10.517 Sportler untergebracht, und 5.092 Funktionäre von der Sorte, die wirklich funktioniert: Trainer, Physiotherapeuten, Zeugwarte, Mannschaftsleiter, Psychologen und Seelsorger.

Die Rest-Funktionäre der gehobenen Gewichts- und Altersklasse residieren dagegen im First-Class- Hotel, dem „Princesa Sofia“ nahe dem FC Barcelona, auch Altersheim der Spiele genannt. Dort wohnen die wackelköpfigen, gebrechlichen Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Umsonst, versteht sich, dafür müssen die Herren der Ringe ihre Pressekonferenzen vor den Augen der Welt im Hotel abhalten. Doch das macht dem Grandseigneur der Spiele, dem Patriarchen und J. R. Ewing des Sports, nun wirklich nichts aus: Juan Antonio Samaranch, machtbewußter IOC-Präsident, Bewohner der 250 Quadratmeter großen Hotel-Suite und Bankier mit einer Schwäche zur totalen Kommerzialisierung des Sports bei gleichzeitigem Behaupten des Gegenteils. „Die Olympischen Spiele sind für die Sportler da“, verkündete er seinen ungläubigen IOC- Untertanen, und einmal richtig im Schönreden drin, schwenkt Samaranch gleich zur Weltpolitik: „Der UN-Sanktionsbeschluß gegen Rest- Jugoslawien soll für Olympioniken ausgesetzt werden.“

Damit begann ein Tauziehen, das erst zwei Tage vor der Eröffnung mit einem skurrilen Kompromiß endete: Die Rest-Jugoslawen dürfen kommen, allerdings nur die Einzelsportler, da Mannschaften die Nation verkörpern, was es in diesem Fall zu verhindern gilt. Die Sportler dürfen nur von ihren Trainern begleitet werden und sich nie zu konspirativen Gruppen von mehr als dreien zusammenrotten, da dies wie eine Mannschaft wirkt und deshalb wie oben zu behandeln ist.

Gestartet wird unter der olympischen Hymne und im weißen Leibchen der unabhängigen Staaten, samt Maulkorb: politische Äußerungen jedweder Art sind strengstens verboten. Vom offiziellen Ein- und Ausmarsch sind sie ausgeschlossen. Wie die Sicherheit der Rest-Jugoslawen gewährleistet werden soll, ist indes unklar. Nicht auszudenken, wenn die Serben und Montenegriner auf die Sportler aus Kroatien, Slowenien oder Bosnien-Herzegowina treffen. Letztere wurden am Donnerstag per IOC-Blitzbeschluß als Land mit eigenem Nationalem Olypischen Komitee anerkannt und eingeladen, noch bevor die UNO diesen Schritt vollzogen hat.

Tatsächlich werden die Spiele in Barcelona ein Sippentreffen der Superlative: Auch die verlorenen Töchter und Söhne aus Südafrika sind erstmals seit ihrem Ausschluß 1960 wieder dabei. Selbst Kuba, das sowohl die Spiele in Seoul als auch in Los Angeles boykottiert hatte, nimmt in Barcelona teil. Die Sportler der GUS treten zum letzten Mal gemeinsam auf, allerdings dürfen sich die 12 ehemaligen Sowjetrepubliken als eigene Staaten kenntlich machen. Estland, Lettland und Litauen stellen eigene Nationalmannschaften.

Damit die Milliarden Nichten und Neffen daheim in den Fernsehsesseln auch jedes noch so kleine Familiengeplänkel mitbekommen, sind 11.386 akkreditierte JournalistInnen am Ort des Geschehens — mehr als eine/r pro Sportler.

Für die „reichen Onkel aus Amerika“, die Sponsoren, ließ sich die fürsorgliche Familie etwas Besonderes einfallen. Fünfzehn Luxusliner und 525 Privatyachten liegen im Hafen, um die 40.000 Geldbeutel plus Anhang in ihre Marmorkabinen mit Goldrand aufzunehmen. Die besten 600.000 der insgesamt 2,9 Millionen Eintrittskarten wurden für die Onkel und Tanten reserviert, damit sie was sehen können für ihr Geld. Bis heute sind 2,6 Millionen Karten verkauft, die billigste für 12 Mark, die teuerste (für die Eröffnungsfeier) für 750 Mark. Für ein Vorrunden- Fußballspiel wechseln stolze 200 Mark den Besitzer.

Der olympische Nepp läuft auf vollen Touren, auch außerhalb der Stadien. Ein Bier kostet in Stadionnähe schon mal acht Mark, ein Käsebrötchen ist nicht unter sechs Mark zu kriegen. Doch den Katalanen sei es vergönnt: Zwar regte sich kaum organisierter Widerstand gegen die Spiele, doch nur, weil man damit den Spaniern in Madrid eins auswischen wollte. Denn der olympische Aufschwung für die Region ist vorbei, die Rezession hat bereits eingesetzt. Ab August steigt die Lohn- und Mehrwertsteuer in der teueren Metropole, und keiner glaubt daran, daß die unfertigen Bauten jemals fertiggestellt werden.

Aber was macht das schon: Allein der Fakt, daß Katalanisch (neben Englisch, Spanisch und Französisch) zur offiziellen Olympiasprache erklärt ist, macht alles wieder gut. Michaela Schießl, Barcelona