Die Pariserin schlechthin

■ Lebensklug, souverän und von bodenloser Nonchalance — Arletty, schon zu Lebzeiten zeitlos, starb mit 94 Jahren

Ich bin nicht schön, ich bin nur lebendig“, entgegnet sie dem verliebten Jean-Louis Barrault in „Les Enfants du Paradis“. Der läßt sich jedoch nicht ernüchtern: „Aber Sie sind die Lebendigste von allen. Ich werde diese Nacht nie vergessen. Das Licht in Ihren Augen!“ — „Ach, das bißchen Licht hat jeder in seinen Augen“, erwidert sie mit einem Lächeln, das um alle Geheimnisse und Täuschungen der Liebe weiß.

Arletty spielte Frauen, die es verstanden, die eigene Wirkung zu entzaubern, ohne dabei je an Zauber zu verlieren. Die Zuschauer ahnten, daß sich ihre Partner Illusionen schufen, gleichzeitig wußten sie aber auch, daß sie nicht nur lebendig, sondern tatsächlich auch schön war. Und daß ihre Augen das Licht auf eine unvergleichliche Weise einfingen. So konnte sie das Gewöhnliche in etwas Einzigartiges verwandeln. Oder aus einem Allerweltswort den herrlichsten Streit entfachen: als ihr Liebhaber und Zuhälter Louis Jouvet in „Hôtel du Nord“ davon spricht, daß er sich nach einer veränderten „Atmosphäre“ sehnt — er hat sich in eine junge Unschuld verliebt —, nimmt sie dies zum Anlaß für eines der witzigsten Wortgefechte des französischen Vorkriegskinos. „Hôtel du Nord“ legte sie beinahe fest auf das Rollenfach der abgeklärten Halbweltdame; nie versäumte sie es, dieser eine natürliche Vornehmheit zu verleihen. Lebensklug, souverän, von bodenständiger Nonchalance und frech im Umgang mit der Obrigkeit: Arletty wurde zu einem Inbegriff der Vorstellung, die sich das Kino von der Pariserin schlechthin machte. Natürlich hatte auch sie ihre Illusionen, die sie in schäbigen Hotelzimmern ausharren ließen, während das Schicksal oder die Liebe ihren Männern einen anderen Weg wies. Es züngelte viel Romantik in ihren Figuren: in unverwüstlichen Gefühlen, munter-spöttischer Komplizenschaft, zu der sie fähig waren.

Mit nur wenigen Filmen schuf sie sich Zutritt zum exklusiven Zirkel der „monstres sacrés“ des französischen Films — neben einigen Meisterwerken des „Poetischen Realismus“ waren es vor allem Komödien wie „Fric-Frac“, die dem Gedächtnis der Filmgeschichte entglitten sein mögen, ihr Publikum damals aber begeisterten, weil sie ganz und gar auf das Temperament ihrer Darsteller zugeschnitten waren. Die Kinogänger hielten ihr zwar nicht jahrzehntelang die Treue wie Gabin, Fernandel oder Signoret. Aber sie liebten sie als Verkörperung eines ganz bestimmten Zeitstils, der in ihrem Gedächtnis zeitlos geworden ist. — Geboren wurde sie als Léonie

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Bathiat 1898 in Courbevoie nahe Paris. „Wie alle Kinder der Liebe“, so schrieb sie in ihrer Autobiographie, „wurde ich in einem Hotelzimmer gezeugt.“

Aus Begeisterung für Maupassants „Mont-Oriol“ nannte sie sich nach einer der Romangestalten: „Arlette“; das „y“ fügte sie in den Zwanzigern, als Amerikanisierung sozusagen, ihrem Künstlernamen an. Sie hatte bereits als Mannequin für Paul Poiret gearbeitet und für Braque, Matisse und Modigliani Modell gesessen, bevor sie 1920 erstmals in Cabarets und Music-Halls auftrat. Sie arbeitete als Chansonsängerin und spielte in Boulevardkomödien. Im Film debütierte sie vergleichsweise spät, als über Dreißigjährige. Sie mußte bis 1935 warten, ehe sie erstmals in „Pension Mimosas“ (Jacques Feyder) größeres Aufsehen erregte. Sacha Gutry entdeckte ihr komödiantisches Talent für seine preziösen „Les Perles de la Couronne“ (1937). Ein Jahr später wurde sie in „Hôtel du Nord“ zum Star. Regisseur Marcel Carné — so kolportiert es der Szenarist Henri Jeanson — glaubte zunächst, ihr Gesicht und ihre Stimme seien fürs Kino völlig ungeeignet. In „Le Jour Se Leve“ (1939) formulierte sie ihren Rollentypus der Vorkriegsjahre (wieder unter Carnés Regie, diesmal nach einem Szenario Jacques Préverts) vollendet aus.

In Prévert sollte sie ihren idealen Autor finden (wie in Roger Hubert ihren idealen Kameramann), der die Rollen präzis ihrer Persönlichkeit anschmiegte: in „Les Visiteurs du Soir“ (1941) verkörperte sie, ironisch-unergründlich, einen Sendboten des Teufels, und als Garance war sie das schillernde Zentrum der „Enfants du Paradis“, schicksalhaft umkreist von den männlichen Hauptfiguren, deren höchstes Ziel es ist, ihre Liebe zu erringen.

Die Pariser Premiere des Films im Mai 1945 konnte sie nicht mitfeiern: Unter der Anklage der Kollaboration hatte man sie interniert, zeitweilig drohte ihr die Todesstrafe. Während der Okkupation hatte sie eine Liaison mit einem deutschen Offizier (offenbar eine echte Herzensangelegenheit); ihre Freundschaft mit dem Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline schadete ihr womöglich ebensosehr. Auch in dieser Situation blieb sie ihrem unbeugsamen, nonkonformistischen Wesen treu: „Mon coeur est francais“, rechtfertigte sie ihre Liebschaft, „mais mon cul est international!“ (Mein Herz ist französisch, aber mein Arsch ist international!). Es wäre verfehlt, ihre Rolle in „The Longest Day“ (1962) — eine Patriotin, die der Résistance hilft — als späten Versuch der Rehabilitation zu verstehen, ebensowenig wie der Titel ihrer Autobiographie, „La Défense“, als Verteidigung ihrer Okkupationsvergangenheit zu lesen ist (er bezieht sich vielmehr auf ein Denkmal, das in ihrem Geburtsort an die Pariser Kommune erinnert).

Die Nachkriegsjahre bescherten ihrer Karriere dann auch einen empfindlichen Einbruch: Sie wurde mit Arbeitsverbot belegt. Erst 1949 trat sie wieder im Theater auf, in Cocteaus Bearbeitung von „Endstation Sehnsucht“. Bevor ihr schweres Augenleiden sie zur Aufgabe ihres Berufes zwang, spielte sie vor allem dramatische Bühnenrollen. Ihre Nachkriegsfilme fügten ihrer Legende nur wenig hinzu. Gerhard Midding