Die Geburt der Kunst aus dem Gestank des Misthaufens

Ostsee-Biennale: Ein neues Kunstereignis in Rostock  ■ Von Wilhelm Schmid

Seit ein paar Jahren ist eine Debatte erneut aufgeflammt, die ohnehin die Kunst des gesamten 20.Jahrhunderts prägte: die Debatte über „Kunst und Leben“. Unentwegt versuchten die künstlerischen Avantgarden, die Schwelle zwischen Kunst und Leben zum Verschwinden zu bringen; unentwegt wurde davor gewarnt, die Kunst würde dann ihre Autonomie verlieren. In Rostock werden nun eine Reihe von Werken ausgestellt, die sich genau auf der Schwelle halten.

Was ehedem die „Rostocker Biennale“ war — ehemals so etwas wie eine Ost-documenta mit einer Tradition seit 1965 —, wurde nun nach drei Jahren Pause mit neuem Konzept wieder aufgenommen als „Ostsee-Biennale“ und eingegliedert in das umfassende Programm der „Ars Baltica“. Wie vergleichbare große Ausstellungen geht auch die Ostsee-Biennale mit wichtigen Arbeiten in den Stadtraum und bespielt — in strengerem Selbstbezug der Werke — gleichzeitig ein großes Haus, die Kunsthalle.

Kunst im Stadtraum läßt die Bürger selten gleichgültig. In diesem Fall ziehen einige Blechbuden von Raffael Rheinsberg (Berlin) die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Schon vor der Aufstellung gab es die größten Schwierigkeiten mit den städtischen Behörden (dem ebenso merkwürdigen wie widerborstigen „Amt für Stadtgrün“ vor allem), bis die Kultursenatorin beherzt dazwischenfuhr. Direkt an den Turm des Kröpeliner Tors aus dem 13./14.Jahrhundert am Ende der Fußgängerzone schließt sich also nun eine Reihe von hausähnlichen Containern an, die Rheinsberg in der Neptun-Warnow-Werft in Warnemünde fand. Er dachte daran, das Problem der Werftenkrise, das die Leute bedrückt, auf diese Weise in den Mittelpunkt zu rücken. Nun aber zieht er den versammelten Zorn der Passanten auf sich. „Was soll das?“, ist das Mindeste, was zu hören ist. „Abstrakte Kunst...“, sagt ein anderer vieldeutig, oder klarer: „Schwachsinn“. Ohne einen Kommentar geht hier keiner vorbei, Rheinsberg hat mit den verrosteten, verrotteten Buden den Nerv getroffen. Einer will wissen, „wer da die Genehmigung gegeben hat“, ein anderer meint sogar, „sowas müßte man...“. Man ahnt es schon und findet es bald bestätigt: Eine bekannte deutsche Boulevard-Zeitung hatte sich schon im Vorfeld der Ausstellung eingemischt, damit die Leute wissen, was sie denken sollen. Aber die Ausstellungsmacher sind fern davon, mit Arroganz darauf zu reagieren. Vielmehr haben sie schon eine Reihe von Gesprächen organisiert, damit jeder zu den Werken sagen kann, was er denkt, und um darüber zu diskutieren; die Künstler sind bei diesen Gesprächen anwesend.

Aber das ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie Kunst als Zeichen der Existenz in Erscheinung treten kann, zur selben Zeit völlig eingegliedert in die Lebenswirklichkeit und doch auch zu ihr querstehend. Am anderen Ende der Achse, die von der Fußgängerzone gebildet wird, findet sich die gebrochene „Achse“ des litauischen Bildhauers Mindaugas Navakas: Ein riesiges Rad mit eingepaßter Achse aus verschiedenfarbigem Granit, das gebrochene Ende der Achse schleift am Boden. Wie ein umgekippter Pilz liegt der tonnenschwere Block elegant im Weg herum. „Was ist das?“ fragt ein kleines Mädchen angesichts dieses monumentalen Zeichens. Gute Frage — die besten abendländischen Geister stellen sie angesichts der Phänomene schon seit zweieinhalb Jahrtausenden, ohne schon zu einer endgültigen Antwort gekommen zu sein; ti estin, heißt die Frage im Griechischen. Aber die vergeblichen Versuche zu einer Antwort, das kann man zumindest sagen, haben schon viel bewegt.

Während man zwischen diesen beiden wuchtigen Werken von Rheinsberg und Navakas hin- und hergeht, fühlt man sich plötzlich vor der Neuen Wache von merkwürdigen Klängen angezogen. Geht man ihnen nach, steht man plötzlich auf einem Straßenpflaster, in das viele kleine Videobildschirme eingelassen sind, die die Klänge visualisieren und auf die man draufblickt. Eine neue Form von Straßenmalerei: Das ist die „Video Passage“ von Kjell Björgeengen aus Oslo, mit Musik von Jin Hi Kim (USA), allerdings müssen die elektronischen Klänge konkurrieren mit der schmissigen Marschmusik, die von den nahen Marktbuden herüberdrängt.

Ein massives „Haus der Kommunikation“ ist Am Bussebart zu finden — es steht so selbstverständlich da, als hätte es immer dagestanden, und macht vor allem den Kindern Spaß, weil man darin herumklettern kann. Es stammt von Björn Norgaard aus Kopenhagen und bildet den Übergang zum weit entfernten „Kommunikationszentrum“ einer Künstlergruppe aus Moskau, die vor der Kunsthalle mit einem riesigen Seeigel die Kompliziertheit, Brüchigkeit und Unmöglichkeit der Kommunikation verkörpern will. In der Kunsthalle selbst, die idyllisch am Schwanenteich außerhalb des Stadtzentrums gelegen ist und wo ein weitläufiger Park zum Spaziergang einlädt, erwartet den Besucher gleich in der Eingangshalle noch eine unangenehme Realität: Eine Videoinstallation des Finnen Pentti Koskinen zeigt die aktuellen Notierungen der Wechselkurse für die verschiedensten Währungen. Giovanni Anselmo wiederum als italienischer Gast projiziert den Schatten des Besuchers an die Wand und läßt ihn über einen aufgeschütteten Sandstreifen springen. Für einen Moment wird der Betrachter selbst zum Kunstwerk.

Oleg Tillbergs, einer der besten lettischen Avantgardekünstler, hat im Innenhof der Kunsthalle einen Haufen Mist aufgeschüttet; dem simplen, stark riechenden Bodendünger steht eine High-Tech-Maschine gegenüber, eine riesige Flugzeugturbine, die er irgendwie in Lettland „organisiert“ hat — eine andere Turbine, die er für eine ähnliche Installation in Riga verwendet hatte, wurde ihm geklaut. Sowohl Misthaufen als auch Turbine finden sich ihrerseits mit einem Videofilm konfrontiert, der die Geburt eines kleinen Menschenwesens zeigt: Im Zentrum dieses Werks steht die Kreativität des Menschen und der deutliche Hinweis, daß sie eine schwere Arbeit ist, immer auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Mitten zwischen dem Haufen von stinkendem Dreck und der glänzenden technischen Oberfläche ist Tillbergs Frage: Wozu bin ich geboren? So hatte eine ähnliche Installation des Künstlers in Riga geheißen.

Eine große Bildergalerie hat ein weiterer lettischer Künstler, der Fotograf Valts Kleins, aufgebaut. Es handelt sich um etwa 150 Ablichtungen von lettischen und russischen Kindern, die aus irgendwelchen Gründen obdachlos sind, von zu Hause abgehauen oder von den Eltern rausgeworfen oder sonstwie vom Schicksal im Stich gelassen: Das Leben kommt in dieser Kunst auf beklemmende Weise direkt zum Ausdruck. Die Kinder haben unter die Bilder, die eben erst, 1992, gemacht wurden, ihren sehnlichsten Wunsch geschrieben: „Ich möchte, daß mich meine Mutter nie mehr verprügelt“, „Ich würde gerne in Deutschland studieren“. Aber auch im Westen, sagt Valts Kleins spöttisch, ist das Leben sehr schwer. Im Westen verschwenden die Menschen zuviel Energie darauf, ihren Luxus aufrechtzuerhalten, dessen Sklaven sie nur seien.

Mit stummen, schlichten Fragmenten aus Holz gestaltete Kain Tapper aus Helsinki den angrenzenden Raum, und Anneè Olofsson aus Oslo zeigt einen leeren Kühlschrank mit Bildern von menschlichem Fleisch und einem Sessel aus Schaumgummi davor, in dem man sich sehr bequem niederlassen kann. Den Vogel, wie man so sagt, schießt freilich der gewitzte Leonhard Lapin aus Estland ab: Im weiten Kreis hat er zwölf Holzblöcke mit Beilen aufgestellt; in der Mitte hat er das aufgehäuft, was die Beile verhackstückt haben und was nun blutüberströmt auf einem Haufen liegt: Bücher von Marx, Lenin, Rechenschaftsberichte der KPdSU, sozialistische Lehrbücher: „Die gespaltene Zeit“.

Der Ausstellungsmacher Norbert Weber aus Kiel hat eine tolle Arbeit geleistet und an alles gedacht, um die Ausstellung selbst zu einem Werk zu machen. Die Einzelwerke wurden sehr sensibel ausgewählt und in einen Zusammenhang zueinander gebracht. Weber betont im Katalog die Arbeit an der Konstellation, die die einzelnen Ereignisse, Installationen, Gegenstände, Konzepte und Bilder in ein Verhältnis zueinander bringt, statt sie nur beliebig anzusammeln und aufzuhäufen. Das heißt nicht, daß ein solches Verfahren der bewußten Ausstellungskonzeption nicht schon längst praktiziert würde, aber Weber gibt ihm zum ersten Mal einen Begriff, zusammen mit einem überzeugenden Inhalt. Seine „Kunst der Konstellation“ sah für die Eröffnung der Ausstellung die Aufstellung eines Zelts vor — in Bayern würde man ganz profan „Bierzelt“ dazu sagen, ein Ort, an dem man sich in aller Gemütsruhe einen hinter die Binde gießen kann. Aber auch daran muß man denken, wenn man Kunst und Leben miteinander verknüpfen will.

Ostsee-Biennale, Kunsthalle Rostock, bis zum 23. August. Di.-So. 10-18 Uhr, Mi. 10-20 Uhr. Katalog dort 35 Mark