Nach Feuer und Schwert hat keiner gerufen

Seit in Halle die Namen von viereinhalbtausend Stasi-Spitzeln veröffentlicht wurden, ist in der Stadt an der Saale nichts mehr wie vorher/ Konsequenzen wird es aber erst nach einer Überprüfung durch die Gauck-Behörde geben  ■ Aus Halle Wolfgang Gast

Werner Gäbler ist verzweifelt. Fast vierzig Jahre lang er die Musikschule in Merseburg geleitet. Er hat das erste Arbeitersymphonie-Orchester im Ort gegründet, zweimal das „Goldene Jagdhorn“ der DDR verliehen bekommen — und jetzt: Gäbler, Werner, Deckname „Skribka“, ein inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. So steht es über den 69jährigen Rentner in der Liste, die Unbekannte vor zwei Wochen an die örtlichen Medien und Politiker in Halle verschickten. Seither ist in der Stadt an der Saale nichts mehr so, wie es vorher war.

Es war ein „Keulenschlag“, sagt Werner Gäbler, als ihn ein Bekannter telephonisch darüber verständigte, daß auch er auf der Liste mit den Namen von rund viereinhalbtausend Stasi-Zuträgern steht. Im Reformhaus, dem Sitz der Gruppen, die aus der früheren Bürgerbewegung hervorgegangen sind, wird diese Liste seit Anfang letzter Woche ausgelegt. Werner Gäbler hat sich jetzt selber davon überzeugt, daß er auf einem der 112 Blätter verzeichnet ist. Unerklärlich ist für ihn, wie ihn die Stasi als Inoffiziellen Mitarbeiter mit der Aufgabe „Absicherung konspirativer Zusammenkünfte“ registrieren konnte. Gäbler kann sich erinnern, daß ihn Stasi-Leute angesprochen haben — mit der Bitte, in seiner Wohnung ein Zimmer zur Verfügung zu stellen. Dies habe er abgelehnt. Den darauf geäußerten Wunsch, wenigstens in der Musikschule einen Raum bereit zu halten, habe er aber nicht ablehnen können — aus Rücksicht auf die Schule. Zwei- oder dreimal hätten sich die Geheimdienstler dort getroffen, zuletzt 1978. Vor vierzehn Jahren hätte damit jeder Kontakt zur Stasi aufgehört. Umso entsetzter ist er, daß er nun auf der Liste steht. Die Kinder sind auf Konzertreise: „Einen Schreck werden sie kriegen“, wenn sie nach Hause kommen.

Die Veröffentlichung der Stasi- Namen platzte mitten ins Sommerloch. „Diese Dimension haben wir uns auch nicht vorgestellt“, sagt Sabine Leloup, Geschäftsführerin des Neuen Forums in Halle. Von der Straße bis in den dritten Stock standen die Menschen in Zweierreihen, um einen Blick auf die Liste zu werfen. Das Interesse ist übergroß: tausend BesucherInnen werden es gewesen sein, wenn die aus Raumnot vergebenen Termine abgearbeitet sind. Seit die Bild dazu überging, die Namen als Fortsetzungsreihe abzudrucken, hat der Andrang etwas nachgelassen. Bild war es auch, die den BürgerrechtlerInnen den Anlaß gab, die Liste auszulegen. Immer wieder hatte das Blatt einzelne Fälle herausgepickt und eine telephonische TED-Umfrage gestartet. Die Leser sollten entscheiden: für schuldig die Telephonnummer 106-5, für nicht schuldig 106-6.

„Wir haben auf diese Situation reagiert“, erklärt Heidi Bohley, Mitarbeiterin im Bürgerbüro der Bundestagsabgeordneten Ingrid Köppe (Bündnis 90/Grüne). Die Liste durfte kein Herrschaftwissen einzelner Politiker oder Redakteure werden. „Alles muß raus“, allein schon, um einen schwunghaften Schwarzmarkt mit den Namen zu verhindern. Ein weiteres Argument war, „daß auch die, die auf der Liste stehen, die Gelegenheit haben müssen, zu sehen, was darauf steht.“ Weil die Bürgerbewegung die Liste auslegte, ging Bild in die Offensive — und druckte. Die Auflage an den Kiosken wurde teilweise verfünffacht. Entlang der Hauptstraßen ist das Blatt seither schon um fünf Uhr morgends vergriffen, wie auch der Fraktionsgeschäftsführer der SPD in Halle, Gottfried Koehn, weiß.

Koehn ist in Halle einer der wenigen, die sich ausdrücklich gegen die Veröffentlichung der Namen wendet. Er ist „grundsätzlich gegen anonyme Veröffentlichungen wegen ihrer Nähe zur Selbstjustiz“.

Zweifel an der Authentizität hat er aber nicht. Nicht nur, daß etliche der Aufgeführten ihre Stasi-Zuarbeit mittlerweile eingestanden haben — die Namen, Aktenzeichen und Decknamen hätte keiner erfinden können. Koehn schiebt den schwarzen Peter der Außenstelle der Gauck-Behörde in Halle zu: Wegen deren schleppender Bearbeitungsdauer erscheine die Liste vielen nun „als Allheilmittel“.

Die viereinhalbtausend Namen sind wie ein Tornado durch die Kulturstadt an der Saale gefegt, die im Jahre 806 erstmals urkundlich erwähnt wird. Unter den rund 310.000 Einwohnern hat es besonders die Kulturelite getroffen. Im Steintor- Varieté hat der Direktor Rudenz Schramm (Deckname Hans Ulrich) seine Stasi-Kontakte eingestanden, im Neuen Theater spitzelte der frühere Chefdramaturg des Landestheaters Andreas Starnicki (Deckname Peter Klein). Auch der Leiter der renommierten Galerie Marktschlößchen, Ulrich Zeiner, arbeitete für die „Firma“ — ebenso wie der Intendant des Thalia-Theaters. Selbst im satirischen Theater „Die Kiebitzsteiner“ war ein populärer Mitspieler als IM registriert.

Für den Magistratssprecher Wigmar Bressel ist besonders schmerzlich, daß die meisten der in der Stadtverwaltung als IM Genannten über einen gewissen Bekanntsheitsgrad verfügen und „erst nach der Wende groß geworden sind“. Viele von ihnen hätten sich maßgeblich an der friedlichen Revolution beteiligt, an den Runden Tischen gesessen und viel Eigeninitiative bei ihren neuen Aufgaben entwickelt. Achtzig Mitarbeiter der Rathausverwaltung werden auf der Liste angeführt, die Rücksprache mit den Betroffen habe eine „unglaubliche Trefferquote“ ergeben. Betroffen sind unter anderem auch drei Amtsleiter. Daß sich unter den Genannten auch eine Politesse befindet, wirkt schon fast wie eine Kuriosität.

Kein Bereich in Halle bleibt verschont. Jeder Besucher in den Räumen des Neuen Forums ist bislang fündig geworden. Eine Psychologin fand den Namen ihres Bruders; spontan entschloß sie sich, eine Selbsthilfegruppe für betroffene Familienangehörige anzubieten. Vier katholische und fünf evangelische Pfarrer sind auf der Liste aufgeführt, die Zahl der auf die Kirchen angesetzten Spitzel: insgesamt 160.

Es ist unbestritten, sagte Oberbürgermeister Klaus Rauen in der Stadtverordentenversammlung am 15.Juli, „daß wir uns der Thematik, die auch mit dieser Liste als ein Teil unserer Geschichte aufbricht, stellen müssen“. Konkret hieße das, daß „zuallerst die betroffenen Persönlichkeiten Gelegenheit haben müssen, eine persönliche Stellungnahme zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen abzugeben“. So sieht es auch der Polizeipräsident Günter Hermann. Rund ein Dutzend seiner Polizisten stehen auf der Liste. Während im Postdienst der Stadt „zwei Hände voll IM“ gefunden wurden, ging es bei der AOK mit zwei Treffern vergleichsweise glimpflich ab.

Überraschend einig sind sich die Hallenser, daß die Liste allein zur Verurteilung der Genannten nicht herangezogen werden darf. Darauf hatten auch die anonymen Verfasser verwiesen, die in einem Begleitschreiben vor möglichen Falschregistrierungen der Stasi warnten. Arbeits- oder dienstrechtliche Konsequenzen wird es daher bei den meisten erst dann geben, wenn die beantragten Überprüfungen durch die Gauck-Behörde abgeschlossen sind. Mord und Totschlag, regelmäßig befürchtet, wenn Stasi-Listen publiziert werden, wird es in Halle nicht geben. Weder der Polizeipräsident noch der leitende Oberstaatsanwalt Dieter Schmiedel-Neuburg haben von Tätlichkeiten gegen vermeintliche IM erfahren. Der Staatsanwalt zählte bis Ende letzter Woche knapp über zehn Strafanzeigen, mit denen sich Beschuldigte zur Wehr setzten. Ob zu Recht oder Unrecht, kann auch hier nur eine Überprüfung durch die Gauck-Behörde erweisen.

Ein Medizindozent der Martin- Luther-Universität stellte sich forsch der Anschuldigung entgegen: Zweimal sei er überprüft worden — durch die Personalkommission der Universität und durch die Ärztekammer. Was er unterschlägt: die Personalkommission hat „vorbehaltlich einer Überprüfung“ durch den Bundesbeauftragten entschieden, die Ärztekammer prüfte eine mögliche Stasi- Tätigkeit überhaupt nicht.

Die Bewertung einer IM-Tätigkeit ist für die Bürgerechtlerin Heidi Bohley „eine Aufgabe für die Gesellschaft“. Das Auslegen der Liste sei nur „Dienstleistung“, eine Voraussetzung dafür, daß die Vergangenheitsbewältigung „von unten“ in Gang kommen kann.

Nach „Feuer und Schwert“ hat bisher niemand gerufen, so Pfarrer Klaus-Dieter Cyranka. Ihn bewegt „wahrzunehmen, mit welcher Reife die Öffentlichkeit mit diesem Thema umgeht“.

Kurzfristig hat er sich entschlossen, im Rahmen der von ihm betreuten telephonischen Seelsorge eine anonyme Beratung für Opfer und Täter anzubieten. Die Wunden der Vergangenheit, mit der Listenveröffentlichung wieder aufgerissen, würden durch die Zeit nicht geheilt. Sie machten vielmehr eine Auseinandersetzung um die Tätigkeit eines jeden einzelnen nötig. Mit Erwartungen an die einstigen Stasi-Zuträger hält sich Cyranka, dessen Schwiegersohn seinen besten Freund auf der Liste wiederfand, zurück: „Wenn in deren Seelen etwas in Bewegung kommt, dann ist das in Ordnung“.