Autofahrende Analphabeten im Zug

■ Taz-Serie über Freud und Leid der schienengebundenen Pendler (8): Wenn Autofahrer die Bundesbahn benutzen, vergeht einem jede Freude

Autofahrende Analphabeten im Zug

taz-Serie über Freud und Leid der schienengebundenen Pendler (8):

Wenn Autofahrer die Bundesbahn benutzen, vergeht einem jede Freude

Wir schienengebundenen Pendler sind des Lesens und Schreibens durchaus mächtig. Was man nicht von allen Bahnreisenden behaupten kann. Doch alle Analphabeten, die jemals in einem Bundesbahn-Zugabteil auftauchten, besitzen ein Auto. Auf eventuelle Zusammenhänge zwischen Analphabetismus, der hier - und nur in diesem Zusammenhang - als Zeichen eines dürftigen Bewußtseinsstandes und als Indiz für Dummheit interpretiert werden soll, und dem Autowahn kommen wir zurück.

So oder ähnlich gehen die Geschichten vor sich: Unsereins steht mit kopfhörerverstopften Lauschern auf dem Bahnsteig und dudelt sich Kunzes “Lola“ in die Ohren. Jemand hampelt rum, um auf sich aufmerksam zu machen. Also, Kopfhörer raus und interessiert geguckt. Der Mensch (oder die Menschin - das Phänomen ist nicht auf ein Geschlecht beschränkt) fragt: „Ist das hier der Zug nach Kiel?“ Unsereins blickt theatralisch zur Anzeigentafel, von der eben diese

1Information verbreitet wird und antwortet knapp: „Ja“. Der ratsuchende Bahnreisende pflegt daraufhin folgenden erklärenden Satz von sich zu geben: „Wissen Sie, ich kenn' mich hier nicht aus, ich fahr' sonst immer mit dem Auto.“

Diesen Satz müssen wir Pendler uns auch anhören, wenn wir irgend- einer armen Seele mal wieder aus dem Fahrplan vorlesen dürfen, schmachtigen Gestalten zeigen, wo denn geraucht werden darf oder einem Bedrängten erläutern, was sich hinter dem rätselhaften Schild mit der Aufschrift „Toilette“ verbirgt: „Wissen Sie, ich kenn' mich hier nicht aus, ich fahr' sonst immer mit dem Auto.“

Wenn wir einmal davon ausgehen, daß es sich bei diesem standardisierten Rechtfertigungssatz nicht um eine verzweifelte Notlüge, sondern um die pure Wahrheit handelt, müssen wir schließen: Wer zu blöde ist, mit den Schriftzeichen eines Bahnhofes zurechtzukommen, ist reif genug für den Individualverkehr. Oder knapper: Autofahrer sind doof. Jürgen Oetting