VINCENT VAN DALL Von Matthias Bröckers

Wie vermittelt man Kindern heutzutage Kultur? Eine Schriftstellerin weihte mich unlängst in eine ziemlich rabiate Methode ein: Fernsehen hat sie ihren Kindern verboten, wenn überhaupt Bilder aus der Flimmerkiste, dann dürfen sich die lieben Kleinen nur Video-Bänder mit italienischen Opern ansehen. Mir scheint das zwar ein bißchen zu streng, aber immerhin konsequent: TV ist ein Faß ohne Boden, und wer einmal mit Kinder-Drogen wie „Sesamstraße“ angefixt ist, kommt von der Sucht erfahrungsgemäß schwer wieder runter. Ob aber der Video-Ersatzstoff „Oper“ für ein TV-suchtfreies Leben sorgen kann, ist dennoch zu bezweifeln. Das Beste ist immer noch, Alternativen zum Fernsehen zu bieten. Zum Beispiel mit den Kindern mal ein paar Tage Kultururlaub. „Wie könnt ihr nur mit Kindern in einer Großstadt Urlaub machen?“, fragt eine Mutter halb entrüstet. Aber erstens waren wir Ostern schon am Meer, zweitens lebt man ja nun das ganze Jahr in der Stadt und weiß sie zu schätzen, wieso also nicht auch im Urlaub, und drittens: Was sollen diese ewigen Natur-, Idyll-, Erholungs- und Luftkur-Arien — wir also ab nach Amsterdam, der Kultur wegen. Ich kann nur sagen: wunderbar. Wenn Sie aber unsere beiden Zehnjährigen fragen würden, fiele die Antwort genau andersrum aus. Schon nach dem ersten kleinen Erkundungsbummel scharrten die Herrschaften genervt mit den Füßen — während bei den Eltern herrliche Hippie-Reminiszenzen aufkommen, nöhlen die Kids über „dauerndes Rumgelaufe“ und Abhocken in Cafés. „Das is doch hier alles so wie in Berlin“, stellt Sohnemann gelangweilt fest, und Fräulein Tochter ergänzt: „Nur noch mehr Verrückte, von fünf, die vorbeikommen, ist mindestens einer irre oder 'n Penner.“ Schon will ich ein gereiztes „Red nicht so'n Unsinn“ dazwischenbellen, weil es ja doch gerade die Halbverrückten sind, die Kultur ausmachen, da biegt ein zum Lastentransporter umgestyltes Moped um die Ecke, auf der Ladefläche ein Rasta-Mann und ein Hund, der mit der rasanten Kurventechnik des Fahrers nicht zurechtkommt und über Bord geht. Nach einer Rolle rückwärts und einem kurzen Sprint springt er wieder auf — erst jetzt bemerken Fahrer und Beifahrer etwas von dem Malheur, verlangsamen das Tempo und brechen in bekifftes Kichern aus. Sehen so die Genies von morgen aus? Ich verkneife mir den Vortrag über den Zusammenhang von lockerer Schraube und genialer Ader, abgeschnittenen Ohren und begnadetem Pinselstrich: „Gehen wir heute abend indisch oder chinesisch essen?“ — „Bei McDonalds gibt's zum Kindermenü geile Sonnenbrillen“, antwortet Boris, und Hannah ergänzt: „Ich gucke heut abend auf jeden Fall ,Liebling Kreuzberg‘.“ Das hat man nun davon, wenn man der Kinder wegen nicht im Freak-Hotel, sondern im Drei-Sterne-Schuppen mit Kabel-TV absteigt — Banausen, diese Gören, gastronomisch, kulturell, überhaupt. Also kriegen sie jetzt ihren Big Mac und dann ab ins Hotel — Fernsehen hat auch sein Gutes, Mama und Papa genießen den Sommerabend im Grachtenviertel in vollen Zügen. Zurück im Hotel läuft MTV: „Schon zweimal Michael Jackson und einmal Mister Big“, strahlen die Kleinen. „Ach, laßt mich doch mit eurem Pop-Müll in Ruhe!“ — „Och, Papi, reg dich doch nicht so auf, morgen gehen wir wieder mit, in diese Ausstellung, wie heißt das noch, ach ja, Vincent Karl Dall Museum oder so ähnlich.“