Mühle von Versuch und Irrtum

Evolutionär überlebt: Karl Raimund Popper, der Vater des Kritischen Rationalismus, wird heute neunzig  ■ Von Joachim Güntner

Wie das Leben so spielt: Der französische Schriftsteller Pozner wurde einst als junger, noch unpolitischer Mensch auf einer Demonstration von einem Polizisten grundlos zusammengeschlagen. Bewußtlos fiel er hin, blieb für Minuten liegen und, so erzählt er: „Als ich wieder aufstand, war ich Kommunist.“ Ähnlich Bert Brecht: Als am 1.Mai 1929 der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Zörrgiebel auf Arbeiterkundgebungen schießen ließ und es Tote und Verletzte gab, soll dies Brecht für immer an den Kommunismus gebunden haben.

Doch es geht auch andersherum, wie das Beispiel des 16jährigen Karl Popper zeigt, der damals Mitglied in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler war. Sein Initialerlebnis fällt in das Jahr 1919. Einige Kommunisten befanden sich in der Wiener Polizeidirektion unter Arrest; beim Versuch, sie zu befreien, wurden mehrere unbewaffnete sozialistische und kommunistische Arbeiter erschossen. „Ich war entsetzt und erschüttert über das Vorgehen der Polizei“, schreibt Popper in „Ausgangspunkte“, dem Rückblick auf seinen intellektuellen Werdegang, „aber auch empört über mich selbst. Denn es wurde mir klar, daß ich als Marxist einen Teil der Verantwortung für die Tragödie trug — wenigstens im Prinzip.“ Popper ertappte sich im Vertrauen auf die Doktrin, wonach jede Verschärfung des Klassenkampfes das Kommen des Sozialismus beschleunigt. „Historizismus“ taufte er 16 Jahre darauf (da war er bereits Dozent für Philosophie in Neuseeland) den Irrglauben an unerbittliche Gesetze der Weltgeschichte. Unter Marxisten galt die Doktrin als wissenschaftlich verbürgt — das blutige Erlebnis in seiner Heimatstadt, das sich durch die Doktrin so gut hätte rechtfertigen lassen, bewirkte Poppers Abkehr vom Kommunismus und rief die Frage nach gesichertem Wissen in ihm wach.

Seine Antwort auf das Problem der Gewißheit fand Popper Ende der 20er Jahre in Auseinandersetzungen mit den Positivisten des Wiener Kreises. Sie ging als „Falsifikationstheorie“ in die Wissenschaftsgeschichte ein. Logische Positivisten wie Rudolf Carnap glaubten, sichere Erkenntnis sei induktiv zu gewinnen, im Gang vom Besonderen zum Allgemeinen, wobei Einzelbeobachtungen zur Theorie verknüpft werden. Popper dagegen wies nach, daß hier von einem logischen Schluß nicht die Rede sein kann. Logik fordert unbedingte Gültigkeit, ein Gesetz für unendlich viele Fälle, während wir immer bloß eine endliche Anzahl prüfen können. „Alle Schwäne sind weiß“ — das galt bis zur Entdeckung schwarzer Schwäne in Australien. Mit anderen Worten, Hypothesen können empirisch nie endgültig verifiziert, sondern nur „falsifiziert“ — widerlegt — werden. „Wir haben die Wahrheit nicht in der Tasche.“

Schwachbrüstige Theorien gehen ein, stärke können sich halten. Popper ist Darwinist auch im Blick auf unsere Denkformen, was ihn, ein beklagenswerter Tribut an den Reduktionismus, zu einem Anhänger der sogenannten Evolutionären Erkenntnistheorie hat werden lassen. Schon sein erstes Buch kündigte dies an. Die (titelgebende) „Logik der Forschung“ sah er bestimmt vom Selektionsdruck. Methodisch erwuchs für Popper daraus die Forderung nach konsequenter Anwendung des Prinzips von Versuch und Irrtum. Dies ist seine „kritische Methode“.

Karl Raimund Popper, der heute 90 Jahre alt wird, kann auf eine publizistische Wirkung gestaffelter Reichweite zurückblicken. Eine weite sozialphilosophische Wirkung, die sich dem zweibändigen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ verdankt und Politiker von seiner Lehrerschaft schwärmen läßt. Eine engere, wissenschaftstheoretische, aufgrund derer er sich rühmt, der Totengräber des Logischen Positivismus zu sein. Und eine speziell britische — als die man den Umstand betrachten darf, daß die Queen den gebürtigen Wiener, der heute britischer Staatsbürger ist, 1965 in den Adelsstand erhob. Es war der Erfolg eines Intellektuellen, der intellektuelle Anmaßung publikumswirksam zu geißeln wußte, Hegel ob seiner dunklen Dialektik zum „orakelnden Philosophen“ degradierte und Platons antidemokratische Staatsutopie in den Orkus stieß. Dessen Frage „Wer soll herrschen?“ hielt er für verfehlt, ja das abendländische Denken vergiftend und formulierte sie um: „Was können wir tun, um unsere politischen Institutionen so zu gestalten, daß schlechte oder untüchtige Herrscher, die wir natürlich zu vermeiden suchen, aber trotzdem nur allzu leicht bekommen können, möglichst geringen Schaden anrichten und daß wir untüchtige Herrscher ohne Blutvergießen loswerden können?“

Poppers Betonung der Institutionen — ein Rechtsdenken in der Tradition Kants — zielt im Politischen auf den Vorrang der Freiheit vor Gleichheit, hat indes auch eine soziale Komponente. Ausdrücklich fordert er Einrichtungen gegen die Ausbeutung der ökonomisch Schwachen. Diese doppelte Schutzfunktion des Staates, zusammen mit der Möglichkeit einer freien, auf die Politik Einfluß besitzenden Diskussion, zählt er zu den wesentlichen Charakteristika einer „offenen Gesellschaft“.

„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ erschien in der englischen Originalausgabe 1945. Von den aktuellen Feinden, Hitler und Stalin, war gar nicht die Rede, nur von den fatalen geistesgeschichtlichen Heroen. Doch man verstand auch ohnedies. Popper traf den Nerv der Zeit und den Geschmack liberaler Zeitgenossen, wenn er unter dem Eindruck totalitärer Bedrohungen der westlichen Welt den „Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, das vielleicht gefährlichste aller politischen Ideale“ nannte. Statt utopischer Gesamtentwürfe plädiert er für „piecemeal social engineering“, Sozialtechnologie, die ruhig Stückwerk bleiben darf. Ein Wort so recht nach dem Herzen sozialdemokratischer Pragmatiker. Doch vor Vereinnahmung von falscher Seite sollte man warnen. Der im Angelsächsischen aufgekommene, meist bewundernd gebrauchte Titel „Kommunistenfresser“ rückt Popper leicht in ein schiefes Licht. Die Marxkritik seines Buches endet mit den Worten: „Der ,wissenschaftliche‘ Marxismus ist tot. Sein Gefühl für soziale Verantwortlichkeit und seine Liebe für die Freiheit müssen weiterleben.“

Der Lorbeer intellektueller Bescheidenheit, der Poppers Stirn umkränzt, steht ihm gut zu Gesicht. Denn seine Grundidee ist schlicht. Die skeptische sokratische Maxime „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ putzte er neu heraus. Original, wiewohl nicht eben originell, war nur die Ergänzung, mit der sie versah: „Aber wir können aus unseren Fehlern lernen!“ Kurzerhand propagierte er die Ausdehnung seiner „kritischen Methode“ (jene von Versuch und Irrtum) „auf so viele Gebiete wie möglich“. Derart generalisiert, schien die Devise emblemtauglich: „Kritischer Rationalismus“ hieß fortan das Banner, unter dem sich die Popperianer versammelten.

Zum Schulterschluß nötigte sie erstmals der sogenannte Positivismusstreit in der deutschen Soziologie — eine irreführende Bezeichnung, da Positivisten im engeren Sinne an ihm unbeteiligt blieben. Ursprünglich war das Ganze nicht mehr als eine Soziologentagung in Tübingen 1961, auf der die Hauptreferenten, Popper und Adorno, zwei in der Sache kontroverse, doch unpolemische Vorträge hielten. Den Streit trugen nicht die Meister, sondern die Schüler aus: Jürgen Habermas und Hans Albert. Der eine wetterte „gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus“, der andere sah einen „Mythos der totalen Vernunft“ am Werk. Popper selbst fand den ganzen Positivismusstreit einen „Eiertanz von geradezu grotesker Unwichtigkeit“.

In seiner Autobiographie kommt er denn auch nicht vor — vielleicht, da hier wirklich die Grundlagen unterminiert wurden, auf denen er stand; wahrscheinlicher, weil ihm überhaupt das Sensorium für die Dialektik der Gegenseite abging. „Geist soll dadurch fortschreiten, daß er als Geist zugunsten der Fakten sich fesselt, wahrhaft ein logischer Widerspruch“, hatte Adorno eingewendet. Natürlich ging es auch um Weltverbesserung. Mit dem sozialtechnologischen Stückwerk Poppers mochte sich das Oberhaupt der Frankfurter Schule nicht befreunden. Und klagte: „Der Verzicht der Soziologie auf eine kritische Theorie der Gesellschaft ist resignativ: Man wagt das Ganze nicht mehr zu denken, weil man daran verzweifeln muß, es zu verändern.“

Wozu die naturwissenschaftliche Verholzung philosophischen Denkens, der Szientismus, verführt, war auf dem Kongreß „Geist & Natur“ 1988 in Hannover zu erleben. Wieder einmal konfrontierte Popper sein Publikum mit der Geschichte von der westlichen Zivilisation als beste aller bisherigen Welten, verbannte er Modernitäts- und Technikkritik in die Dunkelkammer des Irrationalismus. Er schalt einen „modischen Pessimisten“, wer seine Einschätzung nicht teilen wollte, und warf ihm Blindheit gegen die wenn auch begrenzten Erfolge vor. Die Atombombe habe uns zu Pazifisten gemacht, die Quantenphysik mit ihrer Aufhebung eines absoluten Determinismus sei ein Beleg für die Willensfreiheit, Sklaverei sei abgeschafft, der Zustand der Dritten Welt gehe allein auf das Konto ihrer Diktatoren.

Es ist schade, daß Popper sein Skepsispostulat mit zunehmendem Alter immer weniger auf sich selbst angewandt hat, zumal er seine Voraussetzungen nie mehr in Zweifel zog. Alles durch die Mühle von Versuch und Irrtum zu drehen, ist verhängnisvoll. Die Philosophie wird versimpelt, in der Politik ist es ein allzu kostenreiches, im übrigen auch nicht lebbares Verfahren. Konsequent wäre, die Politiker diesem Ideal gemäß durch Technokraten zu ersetzen. Und in der Tat: Bei den italienischen Parlamentswahlen dieses Frühjahrs war viel von einer „Regierung der Fachleute“ die Rede, auch anderswo zeigt man sich dem Gedanken geneigt. Läßt sich ein besserer Beweis für die andauernde Breitenwirkung des Philosophen Popper denken?