Olympia färbt das Wasser rot

Die Regie der Sportspiele liegt ganz in der Hand der Sponsoren  ■ Von Micha Schulze

Die Freiheit des Journalisten endet nicht nur beim Verleger und beim Chefredakteur, sondern ebenso bei der Anzeigenabteilung und den Layoutern. Selbst in der taz richtet sich die Länge eines Kommentars nicht etwa nach der Anzahl der guten Argumente. Sie wird von dem gängigen Makro oder der Höhe der Anzeige bestimmt, die direkt darunter stehen soll.

Die Freiheitsnöte des Printjournalisten sind mit der Situation eines TV-Berichterstatters im Olympiastadion von Barcelona allerdings kaum vergleichbar. „Kein Kommentator muß heute mehr improvisieren“, umschreibt Professor Horst Seifert, Präsident der Akademie für Sportwissenschaften und Leiter der HDTV-Regie in Barcelona, die Situation. Anläßlich der ersten Liveübertragung der Olympischen Spiele im hochauflösenden HDTV-Format wies Seifert bei einer Veranstaltung im Berliner Museum für Verkehr und Technik darauf hin, daß sämtliche Kameraeinstellungen vorher in einem 625 Seiten dicken Regieplan festgelegt worden seien. „Früher haben sich die Bilder ganz nach dem Kommentator gerichtet“, sagte Professor Seifert, „heute ist es umgekehrt.“

Für den Olympiafan, der auf einen Portable oder Omas Schwarzweiß- Kiste zurückgreifen muß, sieht die Situation nicht anders aus als für den Zuschauer der Zukunft mit Satellitenempfang und Riesenmonitor. Die Olympiaregie orientiert sich keineswegs an sportlichen Gesichtspunkten, sondern an den Interessen der Sponsoren. Selbst die Wettkampfzeiten seien mit den Geldgebern abgesprochen worden, räumte Seifert ein. Bei der Übertragung kämen schließlich nicht nur die Sportler ins Bild, sondern auch die Werbetafeln im Hintergrund.

„Jeder Sport braucht sein Bühnenbild“, rechtfertigte Seifert Anstrengungen, die Stadionwirklichkeit mediengerecht umzugestalten. Auf Design werde viel zu wenig Wert gelegt, mäkelte der Sportwissenschaftler: „Meiner Meinung nach ist ein Spiel auf einem braunem Rasen mit einem schmutzig gelben Ball seine Übertragungsrechte nicht wert.“ Das Recht des Zuschauers auf Kontrast rechtfertige auch kleine „Korrekturen“. Untersuchungen zufolge würden etwa Schimmer in rotem Wasser besser zur Geltung kommen als im klaren. Doch bei Seiferts Vorschlag, das Olympiabecken von Barcelona erstmals mit rotem Wasser aufzufüllen oder es zumindest mit roten Kacheln auszustatten, wurde es einigen britischen IOC-Funktionären zu bunt. In letzter Minute legten sie ihr Veto ein.

Unabhängig von der Wasserfarbe bleibt die TV-Übertragung der Olympischen Spiele eine technische Höchstleistung. Insgesamt kommen 518 Kameras zum Einsatz, davon allein 43 beim Turnen, sowie 1.023 Mikrofone. Im Vergleich dazu waren es bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin gerade mal drei Kameras mit ebensovielen Richtmikrofonen.

Von den TV-Gesellschaften wird die Olympiade in Barcelona dennoch mit den Propagandaspielen der Nazis verglichen. Aus der Perspektive der HDTV-Fans drängen sich tatsächlich einige Parallelen auf. Das hochauflösende Fernsehen, das bessere Ton-, Farb- und Bildqualität verspricht, steckt heute in einer ähnlichen Erprobungsphase wie das erste Fernsehen in den dreißiger Jahren.

In technischer Hinsicht hat sich freilich einiges verändert. „Und nun wird eine Pause entstehen, weil unser Kameramann ein neues Objektiv einlegen muß“ — dieser Satz eines Kommentators von 1936 wird sich kaum wiederholen. In Barcelona würden sogar Kleinstkameras direkt am Absprungbrett der Weitspringer und im Militärlabor entwickelte Modelle eingesetzt. Letztere können sich einen Sportler „merken“ und ihn automatisch verfolgen. „Das ist wie bei den Raketenangriffen auf Bagdad“, erklärte Seifert das Prinzip.

Dem reibungslosen Ablauf im elektronischen Stadion steht nur der Mensch als Risikofaktor gegenüber: Sportler, die aus Versehen auf eine Kamera treten, schlafende Techniker oder Journalisten. „Wir haben die Sorge, daß die Kommentatoren nicht mitkommen“, sagte Seifert. Denn die meisten Kamerapositionen könnten von Menschen überhaupt nicht mehr eingenommen werden.

Olympiafans an der heimischen Glotze fahren somit allemal besser als Leute, die sich ein Ticket nach Barcelona besorgt haben. Auf dem Fernsehschirm sieht man einfach mehr als mit dem Fernglas. Um Stadionbesuchern bessere Eindrücke vom Sportgeschehen zu vermitteln, schlug Seifert vor, die Anzeigentafeln durch riesengroße Leinwände zu ersetzen, auf der die Bilder der Kleinst- und Militärkameras gezeigt werden sollten. „Ein modernes Stadion muß ein Medium für sich sein“, meinte der Sportwissenschaftler und verwies auf die Praxis bei großen Popkonzerten: „Hinter der Bühne steht auch eine Leinwand, und darauf sieht man jede Fingerbewegung des Pianisten auf dem Klavier.“