piwik no script img

Dann doch nicht der Nabel der Welt

■ Abschied vom Mythos Kreuzberg: Kits Hilaire und ihr Desillusionsroman »Berlin — letzte Vorstellung, Abschied von Kreuzberg«. Ein Buch über den Westberliner Alternativ-Kiez

Eine junge Frau kommt nach Kreuzberg, eine sehr junge Frau. Sie ist Französin, und Kreuzberg scheint ihr der einzige Ort zum Leben zu sein. Kreuzberg — die Insel inmitten Berlins, das Paradies, das im Bewußtsein der Bewohner schon immer bestand, weil sie wollen, daß es schon immer da war, und das in ihrer Vorstellung auch immer da sein wird. Denn es gibt die Mauer nach Osten, die es abschirmt, und es gibt die unsichtbare Mauer, die es von den andern Westberliner Bezirken trennt.

Als ich das erste Mal nach Kreuzberg kam, war ich nicht mehr ganz so jung. Ich kam aus dem Osten, es war nach dem Fall der Mauer, und ich kannte diesen Mythos sehr wohl. Verstehen konnte ich ihn nur bedingt, denn was ich von Kreuzberg sah, erinnerte mich sehr an den Teil Berlins, in dem ich viele Jahre gelebt hatte. Manche Straßenzüge waren in genau demselben verwahrlosten Zustand. Natürlich war ich angetan vom Kiez-Gefühl: den vielen Kneipen, den Kreuzberger Figuren, den Graffiti, all dem. Und doch fühlte ich mich nicht besonders wohl. Ich spürte, daß ich nicht dazugehörte und wohl auch nie dazugehören würde. Warum, hätte ich nicht genau sagen können.

Das Buch von Kits Hilaire »Berlin — letzte Vorstellung, Abschied von Kreuzberg« hat mir diese Frage beantwortet, wenigstens zum Teil. In tagebuchartiger Form beschreibt es, natürlich nicht ohne den dazugehörigen Schuß Sentimentalität, wie verwoben, fast verstrickt die Bewohner dieses Viertels mit ihrer Gegend sind. Ein wenig verbissen verschanzen sie sich in ihren besetzten Häusern, verteidigen ihr Reservat, ihren Kreuzberger Kiez.

Die stark autobiographische Hauptfigur lebt mit zwei Jungs in einer Wohnung. Sie verbringen ihre Zeit damit, sich gegenseitig ihrer Liebe zu ihrem Versteck zu versichern. Den ganzen Tag sitzen sie vor den Fernsehern, auf denen kein Bild mehr zu sehen ist. Sie trinken alle enorm viel und fürchten sich vor der Welt.

Das Tagebuch beginnt 1979. Die Erzählerin weiß: Sie muß ein Jahr in Kreuzberg durchhalten, dann wird die Stadt sie annehmen, und sie braucht nie mehr wegzugehen. Einerseits ungeheuer auf sich selbst bezogen, beschreibt sie andererseits sehr genau ihre Mitmenschen. Nicht nur ihre Freunde, sondern auch Leute, die ihr verhaßt sind. Zum Beispiel ein Hauswartsehepaar mit zwei Monsterkindern, die sie terrorisieren. Der Widerspruch, der der Erzählerin offensichtlich gar nicht bewußt ist: Auch in Kreuzberg kann man nicht losgelöst von der Welt leben. Wie überall kann man sich zwar auch hier eine Weile trefflich verkriechen; aber irgendwann muß man da wieder raus. Anderenfalls ist man praktisch tot.

Der Widerspruch löst sich von außen: Der Mythos Kreuzberg zerbricht real, als die Mauer fällt und Kreuzberg über Nacht vom Randbezirk zur Mitte Berlins wird. Scharenweise fallen Leute ein. Dabei sind den Kreuzbergern alle gleichermaßen zuwider: die Stauner aus dem Osten genau wie die Mauerzerstörer aus Westdeutschland. Nur nebenbei, fast zufällig kommt der Gedanke auf, was der Fall der Mauer für DDR-Bewohner bedeuten könnte.

Viel zu groß ist das Mißtrauen allem und jedem gegenüber, und die Angst vor einem Deutschland, in dem sich der rechte Arm wieder nach oben reckt, überschattet alles. Die Autorin und ihre Freunde ziehen sich auf die letzte Bastion, die Adalbertstraße zurück und ziehen ihr eigenes Resümee aus der Situation: In einem Kreuzberg, das keine Insel ist, kann man nicht mehr leben. Man muß weggehen. Zwar behauptet die Autorin bis zum letzten Wort ihren festen Willen, durchzuhalten und ihren Traum zu bewahren, aber ihre Biographie straft sie Lügen.

Der Roman ist das Erstlingswerk von Kits Hilaire, entstanden, nachdem sie Anfang 1990 nach Frankreich zurückgekehrt ist. Das Buch ist sprachlich karg, läßt viel Raum für Assoziationen, und das ist gut so. Man sieht beim Lesen klare Bilder vor sich und fühlt sich wie in einem Film mit kurzen Einstellungen und scharfen Schnitten. Sibylle Burkert

Kits Hilaire: »Berlin — letzte Vorstellung, Abschied von Kreuzberg«. Edition Hans Erpf

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen