DEBATTE: Zumutungen über Zumutungen
■ Noch ist die Glaubwürdigkeit der Bürgerbewegungen vorhanden
Mehr als 14 Tage nach Gründung der Komitees für Gerechtigkeit, hält die gesamtdeutsche Diskussion über Sinn und Unsinn dieser Unternehmung an. Überparteiliche Zeitgenossen registrierten einen Abwehraffekt von rechts bis links, von den Bürgerbewegungen bis zur CSU und unterstellten die Konkurrenzangst der Etablierten vor einer neuen Sammlungsbewegung aus dem Osten. Wenn schon die Sensibilität für die soziale Misere und politische Orientierungsnot in der ehemaligen DDR reklamiert wird, sollte die Folgerung: „Hauptsache eine Stimme für die Sprachlosen“ oder „irgend etwas anschieben“, nicht derart beliebig sein. Wer hier mit wem und wozu die Stimme erhebt, spielt schon eine entscheidende Rolle.
Es gibt seit dem Spätherbst 1989 eine fatale Kontinuität in der Organisation „bürgerbewegten Protests“, immer knapp hinter oder neben der gewachsenen Bürgerbewegung von unten. In der Zeit der runden Tische schossen in Berlin auf einmal Bürgerkomitees aus dem Boden, deren Initiatoren kaum jemand kannte, die aber zu den Wohngebietsstrukturen der Nationalen Front auf das beste paßten. Bereits Anfang Januar 1990 hatte die damalige SED-PDS die demokratische Rosa Luxemburg auf den Schild gehoben und reagierte beleidigt, wenn Oppositionelle sich diese schnellen Grabschfinger verbaten. Es folgte die Reklamierung der Tradition des Herbstes für die Verteidiger der DDR und die Fassung der PDS als einer einzigen Bürgerbewegung. Alle Irrtümer zugestanden und ohne einen Funken Selbstgerechtigkeit, bleibt da wohl Mißtrauen angeraten, wenn sich ähnliche Tonlagen wiederholen.
Durch die Westbereicherung ist die Initiatorenmannschaft der Komiteeunternehmen nicht seriöser geworden. Reinhard Mohr hat mit seiner bissigen Einschätzung (taz vom 14.7.) nicht übertrieben, und man muß sich nur fragen, warum Hermann Gremliza, Klaus Croissant und Jutta Ditfurth nicht auch noch dazustießen. Eine Reihe honoriger Erstunterzeichner aus Ost und West reißen das Ruder jedenfalls nicht herum.
Sind denn aber die Problemberge im Osten nicht hoch genug, die Hilflosigkeit der Betroffenen und die Verweigerungsübungen der Parteien nicht so offenkundig, daß die Komitees mit dem Hinweis auf die zweifelhaften Initiatoren weggeredet werden dürfen? Alles dreimal richtig, und es ist schon eine Trivialitätsevidenz, vom Versagen der politischen Klasse zu sprechen. Wenn selbst die Alarmglocke des Bundespräsidenten als Pflichtübung in Parteienschelte gedeutet wird, die Unruhe in den Außenbezirken immer noch nicht die Parteizentralen erreicht und der Kanzler mit der Versicherung, das Klassenziel schon zu erreichen, zum Wolfgangsee verschwindet, muß an der politischen Korrekturfähigkeit der regierenden Koalition mehr als gezweifelt werden. Auch innerhalb der SPD droht die Aufregung beim Sturm im Wasserglas zu bleiben.
Erneut herausgefordert sind die Bürgerbewegungen. Sie sind den Erwartungs- und Verzweiflungsschüben in den Problemregionen direkt ausgesetzt, wissen um die Berechtigung vieler Forderungen, gleichzeitig aber um die Unmöglichkeit einfacher Lösungen. Mit den Herausforderungen an eine Verantwortungspolitik in den neuen Bundesländern ist es so, wie Matthias Geis (taz vom 9.7.) schrieb: „Ob sie das grassierende Anti-West-Ressentiment mit der Zumutung komplexerer Wahrnehmungen konfrontiert und aufzulösen sucht oder es bedient und als Mobilisierungsfaktor nutzt, darin liegt die prinzipielle Alternative.“ Das Illusionärste und zugleich Gefährlichste am neuen Ostpopulismus ist ja die Suggestion, daß es dort nur noch Opfer und Benachteiligte gäbe und schon dadurch alle in einem Boot säßen.
Wird der Ruf nach Gerechtigkeit zur wohlfeilen Zauberformel gegen die allgemeine Benachteiligung, dann droht die Differenzierung wieder auf der Strecke zu bleiben. Noch ist das jahrzehntelange Unrecht, welches in der alten DDR sehr viele Existenzen und auch Leben zerstörte, nicht einmal aufgearbeitet, geschweige denn abgetragen. Viele, die es nicht direkt verursachten, aber duldeten, sind zu schnell bereit, sich wieder nur als Opfer zu sehen und mit den Privilegierten von gestern auf die neuen Herren zu schimpfen. Viele Mitläufer und Profiteure des alten Systems sind außerdem die ersten gewesen, die sich am „Ausverkauf der DDR“ führend beteiligten.
Neue Verantwortung und auch Schuld betreffen nicht den Westen schlechthin und auch nicht „das kapitalistische System“, sondern die Folgen einer konkreten Politik, die goldene Berge versprach und zum Wahlsieg auf die Mentalität von Untertanen setzte. Für die Korrektur dieser Politik wird es des massiven Drucks aus dem Osten bedürfen, aber mindestens ebenso der gesellschaftlichen Unterstützung im Westen. Es ist ja alles andere als Blindheit oder bloße Ignoranz, was die Unwilligkeit zu Veränderungen ausmacht, sondern eher der ausgeprägte Instinkt dafür, wie unbequem und schmerzhaft sie werden: keine satte Wohlstandszunahme und unter Umständen sogar Einkommenseinbußen im Westen, kein schneller Gleichzug und länger dauernde reale Benachteiligungen im Osten. Eine zunehmend neue Realität für alle Beteiligten, die zum Umdenken und zur Mobilität nötigt. Zumutungen über Zumutungen. Grund genug für Katzenjammer in den Strategiestübchen der Konjunkturpolitiker, die von Zuwächsen und Versprechungen leben. Aber vielleicht auch endlich Schub für eine Politik, die berechtigte Zumutungen nicht scheut.
Die Bürgerbewegungen brauchen sich weder die Jacke der beleidigten Politiker noch der Komiteeunterstützer mangels Alternative anzuziehen. Fragen müssen sie sich allerdings, warum Sachvorschläge, die seit langem vom Bündnis 90 und vom Neuen Forum kommen — in Sachen Eigentum und Treuhand, SED-Unrecht und Chancengleichheit in der Demokratie, Finanzreform und Rechte der Kommunen —, so leicht abgebügelt werden konnten. Fehlten wirklich nur die politischen Mehrheiten und die Medienaufmerksamkeit dafür und nicht auch die Hartnäckigkeit und das Vermögen, aus den Erfahrungen der neuen Situation eine neue Politik zu formulieren und diese offensiv und integrativ zu vertreten? Der Kredit an Glaubwürdigkeit für die Bürgerbewegungen ist noch vorhanden und ebenso ihre Verankerung in der Politik auf allen Ebenen. Nur muß aus diesem Kapital etwas gemacht werden, um die Gräben zu überwinden.
Die Bereitschaft, aus der verfahrenen deutsch-deutschen Situation nicht im Gegenressentiment auszusteigen, sondern die Zumutungen an die eigene Adresse anzunehmen, ist im Westen größer als häufig behauptet. Im Selbstlauf und Warten wird aber nur der Frust größer. Da sich der zweite Jahrestag der staatlichen Vereinigung am 3. Oktober ohnehin kaum für Feierstunden eignet, wäre er eine gute Gelegenheit, nicht nur Protest und Widerstand gegen eine falsche Politik zu artikulieren. Er könnte auch der Boden für zahlreiche Foren und Veranstaltungen sein, auf denen Vertreter aus Ost und West zusammenkommen, um gemeinsam neue Konzepte und die Möglichkeiten ihrer Durchsetzung zu diskutieren. Wolfgang Templin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen