KOMMENTAR
: Schutzerkenntnisse

■ Der Verfassungsschutz legitimiert sich selbst

Berichte des Landesamtes für Verfassungsschutz sind ein Lehrstück für Erkenntnistheoretiker. Seine Beobachter kommen regelmäßig zu dem einen Schluß, daß eine Gefährdung der Verfassung gegeben ist, folglich weiterhin beobachtet werden muß. Wie hoch ist jedoch die Gefährdung, und wie hoch wäre sie, würde sie nicht beobachtet? Will der Betrachter eine Antwort auf diese Fragen finden, wird es schwierig. Verifizieren läßt sich die Bedrohung nicht, denn es liegt in der Natur der Sache, daß sich ein Extremist oder Spion der Betrachtung durch den gemeinen Staatsbürger entzieht. Falsifizieren läßt sie sich genausowenig, denn wer will schon für seinen Nachbarn die Hand ins Feuer legen.

Werden Sekundärquellen, wie zum Beispiel staatsanwaltschaftliche Ermittlungen oder gerichtliche Verfahren, hinzugezogen, um daß Maß der staatsgefährdenden Umtriebe zu erkennen, werden diese von den Verfassungsschützern allenfalls als die Spitze eines Eisberges akzeptiert. Und dessen Ausmaße erschließen sich, siehe oben, naturgemäß nur den beamteten Spähern selbst. Das gleiche gilt für die Sekundärquelle Zeitung, obgleich Sicherheitspolitiker häufig genug einräumen, daß sie durch deren Lektüre bessere Erkenntnisse gewinnen als durch ihre eigenen Verfassungsschutzämter.

Wird gar, wie im Falle der Ostblockstaaten, dem nachrichtendienstlichen Gegenüber seine Existenzgrundlage entzogen, verschwindet also der Beobachtungsgegenstand, ist es für die Verfassungsschützer noch lange kein Grund, es ihm gleich zu tun. Denn immerhin kann dann ja »noch keine abschließende Aussage« über deren zukünftige Aktivitäten gemacht werden.

Wohl dem Sozialamt, der Ausländerbehörde, die Personal bereit und Schalter offen hält, weil sie nicht ausschließen kann, daß noch Kundschaft kommt. Für keine Behörde gilt, was das Landesamt für Verfassungsschutz für sich beansprucht. Die Stetigkeit mit der seine Protagonisten Jahr für Jahr die immergleiche Gefahrenlage und damit seine Existenzberechtigung nachweisen, ohne eine Überprüfung zuzulassen, läßt nur den Schluß zu, daß es sich bei ihm um eine institutionalisierte Form der selffulfilling prophecy handelt. Dieter Rulff