■ Spätlese
: Nichtbürger der Gelehrtenrepublik

Nichtbürger der Gelehrtenrepublik

Der Einfluß Ludwig Wittgensteins auf die Philosophie unseres Jahrhunderts ist unabsehbar, seine Wirkung ambivalent. Obwohl sich der in Wien geborene Millionärssohn, der sein Erbe verschenkte und seine Lebenszeit außerhalb seiner gesellschaftlich einflußreichen Sphäre verbrachte, in die inneren Angelegenheiten der Welt nicht einmischte, ist er der Welt ein Begriff: als Mönch des Denkens, als verwirrter Homosexueller, als zutiefst Gläubiger, als radikaler Logiker. Wie die meisten Philosophen unseres Jahrhunderts (für die Frauen gilt dies ungleich geringer) zog er es vor, zwischen der Arbeit des Denkens einerseits und der des Verstehens und Beurteilens, des Agierens in der Welt andererseits keine Verbindung zu ziehen: ein Luxus, der auf der Errichtung und der immer üppiger werdenden Einrichtung eines Gebäudes namens „Philosophiegeschichte“ beruht und sich gemeinhin nicht mehr rechtfertigen muß. (Hier hat die Institution Philosophie die Kirche abgelöst, die vor der Aufklärung das enthaltsame Denken ermöglichte.) Anderslautende Ansprüche werden nur geltend gemacht, wenn Denker handeln — so bei Heidegger, bei Gehlen, bei Sartre und Foucault. Lehnen die Denker selbst sich zurück in die Polster der Philosophiegeschichte, zerrt das Publikum sie nicht heraus: die Philosophen schon aus eigenem Interesse an Verschonung, die Welt aus Desinteresse, Ehrfurcht oder der beliebten Mischung aus beiden Faktoren.

Freilich gibt es Denkgebiete, in denen die politisch-soziale Enthaltsamkeit auffallender ist als anderswo: ein Ethiker wird gern mit der Kasuistik konfrontiert, ein Kommunikationstheoretiker mit den Machtverhältnissen eines jeden Gesprächs, auch dem über Bäume. Wittgenstein, den die Grenzen dessen interessierten, was sich überhaupt denken und sagen läßt, der also über die Bedingungen der Möglichkeit von Sprache und Logik nachdachte, steht mit diesem Anspruch unbedingter Kritik in einem eigentümlichen Verhältnis zur Wirklichkeit: man müßte ihm an seine Grenzen folgen können, um deren Ziehung auf das Innere zurückzubiegen.

Die Versuche hierzu sind zahllos. Wittgenstein hat nicht einmal, sondern zweimal die Philosophiegeschichte bestimmt: mit seinem Frühwerk, dem „Tractatus“ (einer Fibel von sieben Haupt- und etlichen Untersätzen, nach ihrem logischen Status numeriert) — und allem danach, dem „Spätwerk“ also, dessen aufwendige Nachlaßedition noch nicht abgeschlossen ist. Zwischen diesen beiden Perioden teilweise veröffentlichter Arbeit liegen zehn denkwürdige Jahre, die der Philosoph, aus dem ersten Weltkrieg unverletzt zurückgekehrt, als Gärtner und Hotelbursche und schließlich, die längste Zeit, als Volksschullehrer in der österreichischen Provinz zubrachte: im freiwilligen Exil unter Bauern und Häuslern, deren Kindern er das Lernen beibringen und denen selbst er die Notwendigkeit der Bildung erst nahebringen wollte. (An dem Ort seines Wirkens, den er wegen unbeherrschter Übergriffe verlassen mußte, finden heute noch die Tagungen der Wittgensteingesellschaft statt; Niederösterreich beherbergt das Bargfeld der Analytischen Philosophie.) Wittgensteins Leben ist voller Brüche — mit seiner weitverzweigten, mächtigen und kultivierten Familie (von den Nazis ins innere und äußere Exil getrieben, als er schon in Cambridge lebte), mit seinem langjährigen Freund und Förderer Bertrand Russell, mit der britischen Gelehrtenrepublik, mit seiner Vergangenheit als Volksschullehrer, mit zahlreichen Denkkameraden, denen er den Nachvollzug seines Werkes nicht zutraute. Die Unbedingtheit des Urteils wie des Zweifels, die sein Werk bestimmt, hat ihm trotz seiner Schroffheit einen Nachruhm eingetragen, der kaum durch Kränkungen gestört ist: die meisten der von ihm Verletzten und Verabschiedeten äußern sich mit behutsam-ehrfürchtigen Respekt und einer Nachsicht, die dem Gedenken an einen Kranken gleichkommt.

Wittgenstein hatte offenbar eine große Gabe, es sich und anderen unendlich schwer zu machen; man könnte ihn wohl als schwierig bezeichnen, gäbe es nicht ein Wort in seiner Muttersprache, das keine mir bekannte Biographie verwendet (wohl, weil es zu nieder ist), es aber am besten trifft — er machte eben alles unkommod. Man könnte die Verneinung jeglicher Gemütlichkeit für eine conditio sine qua non des Philosophierens halten, gäbe es nicht Denker, die auch dafür den Gegenbeweis angetreten sind — freilich nicht jene, die den transzendentalen Zweifel artikulierten, sondern allein die Skeptiker der Niederungen, die wie Montaigne daran glaubten, daß das Denken dem Leben unmittelbar hilfreich sein solle. Etwas dergleichen hat Wittgenstein vermutlich nicht gewünscht; die zitierten Zeugnisse lassen eher darauf schließen, daß er nach Gewißheit suchte, um eine frühe Qual zu mildern: es ging ihm um Wahrhaftigkeit, Lebenssinn, Ewigkeit, Nicht-Lügen. Philosophische Probleme empfand er als Störungen, die durch Gedankenarbeit aufzulösen seien, als unnütze Verknotungen fehlerhaften Denkens; herkulisch machte er sich daran, eines nach dem anderen zu lösen. So waren seine philosophischen Untersuchungen für eine Reihe von „Denkschulen“ brauchbar, während er selbst sich in keiner Tradition einrichten konnte und wollte: „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht.“

Zwei, vielleicht drei seiner Brüder (der dritte war lange vermißt, man vermutet Selbstmord durch Ertrinken 1902 in den USA) brachten sich um. Die Anlage zur Depression, die Fallsucht derer, die Großes von sich erwarten, war offenbar eine Familienneurose. Ludwig Wittgenstein hielt aus bis zum Schluß (er starb 1951, 62jährig, an Krebs), aber er arbeitete lebenslänglich an der Melancholie entlang. Seine intellektuelle Einsamkeit wurde flankiert und vertieft durch das Bewußtsein, daß er damit die Wahrheit, um die es ihm ging, nicht traf, sondern auch nur an ihr entlang ging: seine Arbeit diente dazu, das sinnvolle, logisch Sagbare vom Unsagbaren zu scheiden, um damit auch das Unwesentliche vom Wesentlichen zu trennen. Denn mit der Philosophie selbst kam man dem Eigentlichen nicht näher: „Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens.“

Der junge Autor und Philosoph Ray Monk, dessen umfangreiche Wittgenstein-Biographie kürzlich auf Deutsch erschienen ist, macht keinen Hehl daraus, daß er das Äußerste und Heikelste versucht: Leben und Werk Wittgensteins zu verbinden auf eine Art, die Notwendigkeit bezeugt. Gestützt auf genaue Kenntnis des philosophischen, des historisch relevanten und des biographischen Materials, hat er eine dokumenten- und anmerkungsreiche Studie veröffentlicht, die bemerkenswerterweise jede Peinlichkeit vermeidet, den enorm schwierigen Gedankengängen Wittgensteins nachvollziehbar und redlich amplifizierend folgt, unzählige persönliche Zeugnisse elegant und aufschlußreich zitiert und sogar dichte Eindrücke der gesellschaftlichen Atmosphären vermittelt, die seine Hauptfigur so radikal wechselte. Die außerordentlich lebhafte, flüssige und kompetente Übersetzung sorgt dafür, daß seine Arbeit auch im Deutschen tadellos ist. Diese erste vollständige Biographie des Philosophen Wittgenstein ist — das allein schon macht sie zu einer Leistung von Seltenheitswert — für NichtphilosophInnen informativ, spannend und nahezu durchweg verständlich; für PhilosophInnen ist sie sogar fachlich aufschlußreich (die Entwicklung des Spätwerks ist schlüssig und klärend dargestellt).

Damit ist freilich nicht alles gesagt. In einem sehr merkwürdigen Sinne handelt es sich nämlich um ein Buch ohne Autor, um ein eloquentes, aufwendiges Unternehmen, das trotz allem ratlos zurückläßt. Denn was Ray Monk wollte — „zeigen..., daß Wittgensteins philosophische Suche und sein emotionales und geistiges Leben eine Einheit bilden“ —, das ist ihm gerade nicht gelungen.

Es ist eine Frage der Form. Man kann die Kühnheit, ein Leben unter einer These, einem Thema zu beschreiben, mit guten Gründen für brachial halten — aber man liest einen solchen Essay in jedem Fall mit Gewinn (und sei es dem leidenschaftlicher Ablehnung mit ebensolchen Argumenten). Man kann sich mit demselben Recht in ein Leben zu begeben versuchen — in der Unübersichtlichkeit ertrinkend, in den Details sich verlierend, nur mühsam hin und wieder aus all dem Ungefügten einen Satz hinausrettend, der einer These ähnelt: auch das kann stimmig sein. Beides zusammen ist unmöglich, denn Form und Inhalt entsprechen einander: der Essay kann die These retten und das Leben in seiner Widersprüchlichkeit, seiner Kontingenz und Unreinheit verloren geben (Starobinski hat Rousseau und Montaigne so behandelt); die materialreiche Biographie gibt die These auf, wo sie dem Leben nahekommt.

Die Ideologie der „Identität“, zu der Ray Monk Zuflucht nimmt, muß die Konjunkturschwankungen der Selbstauslegung und der persönlichen Gewißheit ignorieren oder immer wieder korrigieren, um die Stimmigkeit zu retten. (Wenn man aber sagt: “Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen“, so sage ich: „Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.“ Philosophische Untersuchungen I, Nr 504.) Das Offensichtliche jedoch — die Melancholie Ludwig Wittgensteins, deren Aderlaß seine Philosophie auch war — bedarf keiner 600 Seiten zu seiner Darlegung. Wenn „es nur den Mond gäbe“, sagte der späte Wittgenstein, „würde niemand lesen oder schreiben. Wenn ich es geplant hätte, dann gäbe es überhaupt keine Sonne.“

Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb. Klett- Cotta Verlag, geb., mit zahlreichen Abbildungen, 673 S., 78 DM

Alltags- Obsessionen

Der Alltag hat mit seiner neuesten Nummer zum Thema „Obsessionen“ eben jener Rechnung getragen, welche die für gewöhnlich besten Menschen dazu zwingt, neben allerlei anderem Unbrauchbarem auch Bücher mit sich zu tragen und damit aus der Handtasche einen Kulturbeutel zu machen: er ist nicht mehr groß und schwer und coffeetablemäßig, sondern klein und vom spezifischen Gewicht des guten Layouts (auf bestem Papier). Damit rückt er auch unter der banalen Rücksicht des Nutzwertes in eine Reihe mit anderen luxuriösen Periodika wie dem Merkur, bei dem man ebenfalls oft erst merkt, daß ein Thema von Interesse ist, wenn man sich seiner lesend angenommen hat: Journale wie diese können es sich leisten, auf das interesselose Wohlgefallen zu spekulieren, das intelligente Ausstattung und eine gewisse unterkühlte Chuzpe der Redaktion in Menschen auslösen, die optisch nicht mehr angeschrieen werden wollen und sich bescheidene Bildungslust bewahrt haben.

Im laufenden Alltag erfährt man, neben anderen Obsessionen, auch von der chinesisch-fanatischen Unterdrückung all dessen, was im Kapitalismus Privatleben heißt: Hat hier eine solche Unterdrückung eher private und drückende Ursachen, mündend in Arbeitsobsession, ist dort der klassenlose Fortschritt die Losung, der jede Handbewegung, die nicht hantierend, sondern zärtlich ist, verbietet. Die Erzählung von Anchee Min (erstmals in Granta veröffentlicht, ebenfalls klein und schwer und mitnahmewert) allein ist die hiermit empfohlene Anschaffung wert.

Der Alltag. Die Sensationen des Gewöhnlichen.

Nr.60: Obsessionen. Scalo Verlag, Berlin. 241 S., 20 DM