Bulgarien ist praktisch bankrott

Das zweitärmste Land Europas in der Schuldenkrise/ Kredite und Auslandsinvestitionen bleiben aus  ■ Von Keno Verseck

Sofia/Berlin (taz) — Noch vor ein paar Jahren war Bulgariens Schwarzmeerküste beliebtes Ferienziel von Pauschaltouristen mit schmalem Geldbeutel. Seit der „sanften Revolution“ Ende 1989 ist der Urlaubsstrom abgerissen. Mit Bulgarien assoziiert man inzwischen eher das berüchtigte Atomkraftwerk Kosloduj. In ebenso marodem Zustand wie der Schrottreaktor befindet sich auch das Neun-Millionen-Land. Fast drei Jahre nach der Absetzung des Langzeit-Diktators Todor Shiwkow, mehreren Wahlen, Regierungswechseln und ständigen Kabinettsumbildungen ist Bulgarien noch immer weit von politischer Stabilität entfernt. Ökonomisch geht es rasanter bergab als in allen anderen ehemaligen „Bruderländern“. Nach Albanien ist Bulgarien das zweitärmste Land Europas — und praktisch bankrott.

Jetzt rächt sich die einstmals extrem enge Anbindung an die Sowjetunion, die mongolisches und kubanisches Niveau erreicht hatte. Bis zum Machtantritt Gorbatschows stand Bulgarien im Ruf, die 16. Sowjetrepublik zu sein. Noch heute verweisen die Bulgaren dankbar darauf, daß Rußland 1878 der 500jährigen osmanischen Vorherrschaft ein Ende setzte. Stalin war sich seines Vasallen nach dem Einmarsch der Roten Armee im Jahre 1944 so sicher, daß er es nicht für nötig hielt, dauerhaft Truppen zu stationieren.

In ökonomischer Entsprechung bauten die bulgarischen Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg eine völlig von der Sowjetunion abhängige Wirtschaft auf. Noch 1989 gingen 65,8 Prozent der Exporte an den „Großen Bruder“, und 53,6 Prozent der Importe bezog Bulgarien von ihm. Der gesamte RGW-Außenhandelsanteil erreichte etwa 80 Prozent. Alle anderen osteuropäischen RGW-Länder hatten ihren sowjetischen Außenhandelsanteil im selben Jahr bereits auf 20 bis 30 Prozent reduziert. Da die bulgarische Ökonomie stark von der Außenwirtschaft abhängt, war die Einführung der Dollar-Verrechnung beim RGW- Handel im Januar 1991 ein Schlag, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat. Doch nicht nur die Ost-, sondern auch die Westexporte verringerten sich — Abnehmerländer bemängelten zunehmend den Qualitätsstandard der Waren, zum Beispiel die Schadstoffbelastung landwirtschaftlicher Produkte. Insgesamt sank das Außenhandelsvolumen gegenüber 1990 auf 43 Prozent.

Die gesamte Warenproduktion lag zum großen Teil wegen ausbleibender sowjetischer Lieferungen von Energieträgern und Rohstoffen in den ersten vier Monaten dieses Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 30 Prozent niedriger. Die Industrieproduktion ging in den ersten fünf Monaten 1992 um 20 Prozent zurück und liegt nur noch bei 50Prozent des Niveaus von 1990. Das Bruttosozialprodukt sank im letzten Jahr um 23 Prozent, die Inflationsrate schnellte mit 475 Prozent auf Platz eins in Osteuropa. Lebensmittel- und Konsumgüter stiegen im Durchschnitt sogar um 600 Prozent.

Die Reformprogramme haben der zusammengebrochenen Wirtschaft noch nicht wieder auf die Beine helfen können. Als relativen Erfolg kann die Regierung verbuchen, daß die Inflationsrate in diesem Jahr bisher 33 Prozent beträgt, und der drastische Produktionsrückgang vorsichtig verlangsamt werden konnte. Andere Reformen scheiterten dagegen oder wurden durch die politische Instabilität untergraben. Das Kabinett unter Ministerpräsident Filip Dimitrow ist infolge der Ergebnisse bei den Wahlen im Oktober letzten Jahres eine Minderheitsregierung, die auf die Stimmen der Partei der türkischen Minderheit angewiesen ist — eine heikle Situation, da sie sich auf diese Weise dem Vorwurf des „Antipatriotismus“ oder der „Kollaboration“ aussetzt. Denn seit die Sozialisten — Nachfolger der Kommunistischen Partei — bei den letzten Wahlen auf Platz zwei verwiesen wurden, tun sie sich verstärkt durch nationalistische und chauvinistische Politik hervor, die die verbreiteten Ressentiments gegen die türkische Minderheit in Bulgarien zu mobilisieren versucht.

Die Reformen werden indirekt auch durch das Schuldenmoratorium verzögert, das Bulgarien als eines der höchstverschuldeten Länder der Welt im März 1990 verkündete. Eine Einigung ist bisher weder über eine Rückzahlung noch eine Umschuldung der 11,4 Milliarden Dollar erzielt worden. Erschwerend wirkt sich aus, daß der größte Teil der Kredite von privaten westlichen Banken stammt. Das Land sei bankrott, klagt Finanzminister Ivan Kostov immer wieder flehentlich und kritisiert gleichzeitig, daß westliche Staaten und Finanzinstitutionen nicht mehr bereit seien, Schulden von Privatbanken zu übernehmen. Als Folge des Schuldenmoratoriums bekommt Bulgarien kaum mehr Kredite, und Auslandsinvestitionen bleiben weitgehend aus.

Die waren aber gerade für die Verwirklichung der Ende April gesetzlich verankerten Privatisierungspläne wichtig. Bulgarien hat sich gegen eine Kuponprivatisierung und für das Modell einer Privatisierung durch Unternehmens- oder Aktienverkauf entschieden. Außerdem hat die Regierung schon vor längerer Zeit ein debt-equity-swap vorgeschlagen — Unternehmensbeteiligung gegen die Übernahme von Schulden. Man wollte dadurch Eigentumsumwandlung und Schuldenkrise gleichzeitig bewältigen. Das Interesse potentieller ausländischer Investoren war bisher jedoch gering. So hat sich bei der Unternehmensprivatisierung außer der nahezu vollständigen Umwandlung in staatliche Kapitalgesellschaften (AG oder GmbH) wenig getan. Die Aufteilung landwirtschaftlicher Flächen und die Auflösung der Kooperativen ist zwar bereits erfolgt, hat aber zu einem unübersichtlichen Chaos geführt. Monatelang blieben die Eigentumsverhältnisse unklar, große Flächen wurden nicht bepflanzt, und den meisten Bauern fehlte es an Geld und Ausrüstung zur Bewirtschaftung der Felder.

Bulgarische Politiker und westliche Beobachter staunen immer wieder, daß angesichts des düsteren Zustands der bulgarischen Wirtschaft noch keine sozialen Unruhen ausgebrochen sind. Im letzten Jahr mußte die Bevölkerung Reallohnverluste von 45 Prozent hinnehmen. Mittlerweile, so geben offizielle wie inoffizielle Schätzungen an, leben 40 Prozent der Einwohner am biologischen, weitere 40 bis 50 Prozent „nur“ am sozialen Existenzminimum.