»Schwere Fälle« beim Krisentelefon

■ Arbeitslosigkeit, Schulden und Gewalt als Probleme beim »Telefon des Vertrauens« in Ost-Berlin/ Noch zu Wendezeiten dauerte die Beratung nur halb so lange wie heute/ Passivität als größte Gefahr

Berlin. An das »Telefon des Vertrauens« — als Krisenberatungsstelle bereits zu DDR-Zeiten eine Institution — wenden sich heute immer mehr »schwere Fälle«. Durchschnittlich 37,7 Minuten dauert heute ein Gespräch mit den anonymen Helfern — noch zu Wendezeiten waren die meisten Telefonate nach 15 Minuten Dauer beendet, berichtet Jörg Richter, Geschäftsführer der Krisenberatungsstelle im Bezirk Mitte.

Während vor der Maueröffnung oft sexuelle Fragen im Mittelpunkt gestanden hätten, seien heute Arbeitslosigkeit, Schulden und Gewalt die gravierenden Probleme, erläutert der Geschäftsführer der Krisenberatungsstelle. Richter sagt: »Sehr viele Menschen haben die Orientierung verloren.« Als Folge des Orientierungsverlustes beobachte er Schlaflosigkeit, Depressionen und Ängste.

Vor allem Frauen, die älter als 40 Jahre und arbeitslos sind, glaubten, »daß es für sie gelaufen ist«, schildert Richter die Erfahrungen, die seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während ihrer Beratungsarbeit am Telefon gewannen.

Dagegen ertränkten viele Männer ihren Kummer in Alkohol. »Alkoholismus nimmt zu«, stellt der Psychologe fest. Ziel der vier festen und etwa 50 freien Mitarbeiter des Telefons des Vertrauens sei es, den Ratsuchenden »Hilfe zur Selbsthilfe« zu geben. Für den Psychologen Richter sind nicht die äußeren Bedingungen, unter denen seine Klienten leben müssen, der Ansatzpunkt. »Die größte Gefahr ist, daß die Leute resignieren, passiv werden.« Vielen Anrufern werde von den Mitarbeitern des Krisentelefons deshalb zunächst klargemacht, daß sie selbst etwas unternehmen müßten, um aus der Misere herauszukommen. Oftmals würden Therapien oder Gesprächsgruppen vermittelt, drei bis vier Ratsuchende wenden sich täglich persönlich an Richter. Etwa 300 Menschen empfing der Psychologe nach eigenen Angaben bereits in diesem Jahr, 12.000 Anrufer meldeten sich bis jetzt telefonisch.

Das Telefon des Vertrauens existiert laut Richter seit 1988. Ursprünglich einer Poliklinik angegliedert, wird es heute von einem gemeinnützigen Verein getragen, zu dessen Gründungsmitgliedern im August 1991 CDU-, SPD- und FDP- Politiker gehörten. Die Gesundheitsverwaltung finanziere das Projekt mit 350.000 Mark im Jahr. Davon, so Richter, würden Miete und Telefon sowie die Gehälter bezahlt. Die Krisenberatungsstelle fordert nun mit Unterstützung führender Politiker auch Mittel aus dem ehemaligen SED-Vermögen. »Wir beschäftigen uns ja mit Problemen, die die SED geschaffen hat«, begründet Richter das Ansinnen. dpa/taz