Ohne Gabel den Favoriten vernascht

■ Der britische Nobody Christopher Boardman gewinnt die 4.000-m-Einzelverfolgung gegen Jens Lehmann aus Leipzig: War's das Wunderrad aus titaniumverstärktem Karbon oder der Kopf?

Barcelona (dpa) — Demontiert und trotzdem nicht zerstört. Statt Gold nur Silber, dazu die böse Schlappe durch den neuen Olympiasieger Christopher Boardman, der auf seinem neuen „Wunderrad“ aus dem Formel-I-Stall von Lotus 260 m vor dem Ziel sogar am Weltmeister vorbeiflog, was es in einem olympischen Finallauf bei den Einzelverfolgern noch nie gab: Dennoch freut sich Jens Lehmann ehrlich über den zweiten Platz. Stimmt etwas nicht mit dem 24jährigen Leipziger, oder hat der faire Verlierer den olympischen Gedanken besonders gut erfaßt?

„Boardman war absolut souverän und hätte heute sicher auch auf einem herkömmlichen Rad gewonnen. Sein Material hat vielleicht eine Sekunde ausgemacht. Ich war schon nach 2.000 Metern geschlagen und habe Tempo herausgenommen, weil ich ja noch im Vierer fahre. Deshalb ist es kein Beinbruch, daß er mich eingeholt hat“, sagte Lehmann. Ehe der Brite mit Fabelzeiten auf der olympischen Piste aufgetaucht war, hatte Lehmann noch scherzend gesagt: „Von ihm kannte ich bisher nicht einmal den Vornamen.“

Der 23jährige Überraschungs- Olympiasieger, bei der WM in Stuttgart vor einem Jahr Neunter und eigentlich ein Nobody, maß dem Technologie-Vorsprung dagegen Entscheidendes zu: „Mein Rad hat den Unterschied zwischen Bronze und Gold ausgemacht.“ Im Grunde hatte Lehmann von Beginn an keine Chance. Bereits nach 1.000 Metern lag er eine Sekunde zurück, da schien der nervenstarke Kämpfer schon zu resignieren. Er wußte, daß es ihm versagt bleiben würde, der erste deutsche Goldverfolger seit Gregor Braun (Neustadt) 1976 in Montreal zu werden.

Der vermeintliche oder tatsächliche Entwicklungsrückstand der Deutschen in der „Material- Schlacht“ rief am Donnerstag den Direktor der Berliner Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) in Barcelona auf den Plan. „Das Rad der Engländer ist kein Schocker für mich. Im Modell hatten wir so etwas auch fertig, bloß bis Olympia war es nicht mehr umzusetzen. Die veränderte Sitzposition ist das Entscheidende an der Maschine Boardmans“, sagte Kurt Debus, der durch seine Entwicklungen Anteil am deutschen WM-„Goldrausch“ von Stuttgart hatte und mit Genugtuung auch schon die Goldmedaille des deutschen Straßenvierers — alle saßen auf FES-Rädern — in Barcelona registrierte.

Der 23jährige Boardman, beruflich selbst als Berater beim Design von Fahrrad-Rahmen tätig, fährt ein von Lotus gebautes Superrad, das der 49jährige Ingenieur Mike Burrows mit einem Rahmen aus titaniumverstärktem Karbon in einem Stück und ohne Gabel (sic!) bei Vorder- und Hinterrad ausgetattet hat.

Der lange Sachse Lehmann, der im Januar beim Sechstagerennen in Stuttgart den 4.000-m-Weltrekord von Wjatcheslaw Jekimow (GUS/4:28,900 Minuten) angreifen will, schien das Finale schon in den Vorläufen verloren zu haben. Auf der vom Ingenieur Mike Burrows aus titaniumverstärkten Karbon in einem Stück ohne Gabel für Vorder- und Hinterrad ausgestatteten futuristischen Rennmaschine legte Boardman, tief auf seine Maschine gebückt, Fabelzeiten hin, die Lehmann ins Grübeln brachten.

Als Gegenmittel hatte er sich ein besonders starkes Halbfinale ausgedacht. Doch der Plan ging schief, obwohl Lehmann gegen Gary Anderson (Neuseeland) erstmals eine schnellere Zeit fuhr als Boardman gegen den Australier Mark Kingsland (4:27,230/4:29,332 Minuten). Die Fahrt schien Lehmann, der die Silbermedaille mit seiner Frau und seinem „Fanclub“ feierte, mehr Kraft geraubt als den Briten geschockt zu haben.

Boardman fuhr dagegen im Semifinale verhalten mit Blick auf die alles entscheidenen 4.000 m gegen den Weltmeister, der am Donnerstag nach den Worten des Sportwartes Fritz Ramseier in der ersten Qualifikation des Vierers am Start sein wird. Vierer-Kollege Michael Glöckner hofft nun auf geistige Leuterung: „Lutz hat das Rennen im Kopf verloren.“