Ecken, Nischen und Verstecke

Die deutsche Ausgabe des dritten Bandes der „Geschichte des privaten Lebens“ — „Von der Renaissance zur Aufklärung“  ■ Von Nils Minkmar

Die Herausbildung von Öffentlichkeit und Privatheit wurde von bundesdeutschen SozialhistorikerInnen in den letzten zwei Jahrzehnten vornehmlich im Kontext der Entstehung des Bürgertums im 19.Jahrhundert thematisiert. Es dominierte eine Unterscheidungslinie zwischen einerseits dem politisch aufmerksamen Citoyen, über dessen ökonomisches oder familiales Dasein nicht allzuviel zu sagen war, und dem Bourgeois andererseits, der seine politische Interesselosigkeit mit wirtschaftlichem Erfolg und der Pflege seiner häuslichen Innenwelten verbindet. Die Sphäre des Privaten zu erforschen, hieß die Sphäre des Unpolitischen zu erforschen. Einem solchen Konzept lag die Vorstellung zugrunde, daß in der Geschichte vor allem jene Prozesse und Strukturen interessieren, die unmittelbar in der Herausbildung moderner politischer Systeme oder Gesellschaftsformen, wie eben der bürgerlichen Gesellschaft des 19.Jahrhunderts, wirksam wurden.

Dies hat sich geändert, nicht zuletzt dank der Arbeiten von Michel Foucault oder Philippe Ariès und der vielfältigen wissenschaftlichen Impulse der Frauenbewegung.

Seitdem finden solche Phänomene stärkere Berücksichtigung, deren Entwicklungen nicht unbedingt den bis dato üblichen politikgeschichtlichen Periodisierungen entsprechen, wie Emotionen, Geschlechterrollen, Alltagsverhalten oder Sinneswahrnehmungen, und deren Untersuchung es möglich macht, ein komplexeres Bild von der abendländischen Geschichte der letzten fünf Jahrhunderte zu entwerfen; eines, das sich an den Erlebnissen der historischen Akteure selbst orientiert. So wurde auch das private Leben zum Objekt wissenschaftlicher Begierde, notwendigerweise zu einem nach wie vor obskuren. Folgt man nämlich einem modernen, an Emotionalität, Intimität und Individualität ausgerichteten Begriff von Privatheit, so wird man nur nach rigoroser räumlicher und zeitlicher Eingrenzung und unter großen Mühen aussagekräftige Ergebnisse gewinnen können. Denn, wie Roger Chartier in dem Band schreibt: „Es gibt keine einhellige und allgemeingültige Definition des Privaten.“ Die Maßstäbe für die Bestimmung und Bewertung des Privaten müssen schon den entsprechenden historischen Milieus entnommen werden, wenn man sich nicht mit den geläufigen, einer schlichten funktionalen Logik gehorchenden Feststellungen des Typs „Bauern kannten kein Privatleben, weil ihr Grundherr ihnen nie eines genehmigt hätte“, begnügen will.

Nun zwingt freilich nichts und niemand HistorikerInnen dazu, sich in die Niederungen historischer Erfahrungsräume zu begeben: Für solche, die sich eher in den luftigen Höhen theoretischer Reflexion wohlfühlen, fehlte es in den Sozialwissenschaften nie an umfassenden Erklärungsansätzen, die es ermöglichen, nahezu alle kulturellen Erscheinungen mit den allgemein bekannten Prozessen der Modernisierung in Verbindung zu bringen — jene von Karl Marx, Norbert Elias oder Max Weber sind nur die prominentesten. Orientiert man sich aber in dieser Logik an den bekannten kulturhistorischen Makroentwicklungen der europäischen Neuzeit — Bildungsrevolution, Wandel der Religiosität und der Familienformen — und somit an bearbeiteten Quellen und bekannten Konzepten, wird es schwierig, der Sphäre des Privaten eine Eigenständigkeit zuzugestehen, sie noch vom Bereich der Kultur oder der Familie zu unterscheiden, insbesondere wenn man nicht nur auf die oberen Schichten der Gesellschaft sieht.

Das diesem Band zugrundeliegende Konzept hat nun demgegenüber zumindest den Vorteil, langfristige Prozesse der europäischen Geschichte mit einem hohen Grad an Praxisnähe zu verbinden und unmittelbar den Eindruck hoher Plausibilität zu erwecken: Drei fundamentale Prozesse, so die von Philippe Ariès schon 1983 formulierte Grundthese, begünstigen in Europa in der Zeit vom 16. bis zum 18.Jahrhundert die Ausbildung von Privatheit im Leben von immer mehr Menschen. Zunächst das Erstarken des Staates, der die traditionalen Kämpfe um Ehre und Besitz normierte und der eine Form von öffentlicher Ordnung vorgab und absicherte, von der sich ein Anfang von privatem Raum abgrenzen ließ.

Reformation und Gegenreformation veränderten die Formen der Religiosität, die Qualität der Beziehung des einzelnen zu Gott gewann an Bedeutung und förderte eine Intimisierung des Glaubens. Eine zunehmende Alphabetisierung und die größere Verbreitung von Druckwerken aller Art sorgten in ganz Europa für eine zunehmende Vertrautheit immer größerer Teile der Bevölkerung mit der Lektüre. Die Einstellung zum Lesen änderte sich: Neben den Freuden des Vorlesens in der Gruppe pflegte man auch die Einsamkeit der Reflexion.

Der eindrucksvollen Geschlossenheit solcher Konzepte wohnt ein eigener Zauber inne. Doch eine Perspektive, die Jahrhunderte wie im Zeitraffer ablaufen läßt, macht zwar den Wandel jener Dinge kenntlich, die sich nur schleichend und nachts zu verändern scheinen, doch sie ist eben auch schwindelerregend, zumal wenn der Blick auf Dingen ruhen soll, die sich in der Enge und dem düsteren Muff der Kammern, Küchen und Boudoirs abspielen. Eine Möglichkeit, die säkularen Prozesse der kulturellen Umwälzungen mit den banalen Gesten vertrauter Abläufe auf nachvollziehbare Art zu verknüpfen, ist die historisch-anthropologische Interpretation praxisnaher Quellen, um so eine einleuchtende Vorstellung von den Motiven historischer Akteure zu vermitteln. So sind in dem vorliegenden Band jene Beiträge noch heute, mit zehnjährigem Abstand zur Präsentation des Konzepts, überzeugend, in denen sich AutorInnen um eine solche Perspektive bemühen, wohingegen etwa Jacques Revels an Elias orientierte begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der civilité der Alterungsprozeß weit weniger gut bekommen ist. Zu viele Beiträge suchen durch verfeinerte, subtil periodisierende Interpretationen von Michel de Montaigne, Samuel Pepys oder Erasmus von Rotterdam den Raum des Privaten abzugrenzen und bestimmte Wandlungen dramatisch zu akzentuieren. Doch derart prominente Quellentexte lassen mittlerweile solche Deutungsversuche geduldig über sich ergehen, ohne gleich auch neue Einblicke in Privatgemächer aller Art freizugeben.

Wo jedoch Arièssche Überlegungen und die einfühlsame Interpretation praxisnaher Quellen zusammenfinden, ist Außergewöhnliches zu lesen.

Dies ist der Fall bei Yves Castan, der ein Forscherleben über Gerichtsakten aus dem Toulouse des Ancien Régime zugebracht hat. Sein am Detail des sozialen Lebens geschulter Blick registriert die vom 17. zum 18.Jahrhundert zunehmende Deutlichkeit der Scheidung von Privatheit und Gemeinschaft unter den Bewohnern des Languedoc: Ein Gefühl für den Unterschied zwischen den Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zu denen man ein besonderes Verhältnis hatte, und solchen, die jeder Nachbar benutzen konnte, wird im Laufe des 17.Jahrhunderts immer häufiger geäußert. Auch einfache Bauern tolerierten es immer weniger, wenn neugierige Hände von Verwandten, Hausgenossen oder Nachbarn sich an ihren „Beutel“ oder ihren „Kasten“ heranwagten, in denen die Habseligkeiten verwahrt wurden. Als eine grobe Beleidigung galt es unter Kartenspielern im Languedoc des 17.Jahrhunderts, den Geldbeutel eines Spielers vor aller Augen auf dem Tisch auszuleeren, selbst wenn berechtigte Zweifel an seiner Zahlungsfähigkeit bestanden. Demütigungen und Beleidigungen dieser Art wurden zunehmend auch vor Gericht beklagt. So beengt die Wohnverhältnisse für die überwiegende Mehrheit der Menschen waren, so sehr achtete man zunehmend auf die Unversehrtheit jener Ecken, Nischen oder Verstecke, in denen persönliche Dinge ihren Platz hatten. Die Entwicklung eines gesicherten und respektierten privaten Bereichs fiel paradoxerweise um so leichter, je mehr jemand staatliche und gesellschaftliche Anerkennung genoß. Die Frauen des 17. und 18.Jahrhunderts verspürten hingegen (wie die Beiträge von Nicole Castan und Arlette Farge — ebenfalls mit einem Sinn für das Innenleben der historischen Akteure schreibend — zeigen) eine Spannung zwischen den grundsätzlich verbesserten Möglichkeiten für ein privates Leben und dem täglichen Kampf um Anerkennung und materielle Sicherheit. Denn die gesellschaftliche Stellung der Frau, sei sie Tagelöhnerin, Mutter oder Hausherrin, war untrennbar mit ihrem Ruf verknüpft und von einer privaten Existenz nur schlecht zu trennen. Zwar halfen rechtliche Instrumente, wie der Ehevertrag oder die Anfänge einer Mädchenerziehung, und gewandelte Andachtsformen, die eine stille Lektüre auch von Frauen vorsahen, eine private Identität herauszubilden, doch waren lange Kämpfe notwendig, um gewonnene Freiräume gegen die Ansprüche von Familie oder Nachbarschaft auch zu behaupten — eine ernüchternde, nur halb überraschende Kontinuität zu heutigen Verhältnissen. Kinder wurden im 18.Jahrhundert durchaus als eigenständige Persönlichkeiten behandelt, zu denen ein intimes, emotionales Verhältnis entwickelt wurde, doch konkret war eine solche Beziehung nur unter Preisgabe von persönlichen, seien es gesellschaftliche oder wirtschaftliche, Ambitionen der Mutter zu realisieren. Die Qualität des privaten Lebens war immer auch von seiner Beziehung zur Öffentlichkeit, und sei dies die Neugier der Nachbarn, abhängig. Zwar mochte das räumliche und zeitliche Ausmaß, das man ihm zugestehen konnte, unterschiedlich sein — vom geheimen Garten bis zu Zetteln in einer Mauernische —, aber tendenziell nahm zwischen Renaissance und Aufklärung die Bereitschaft der Menschen, sich moralischen Imperativen und prüfenden Blicken ganz und gar auszuliefern, ab.

Neuartige Verhaltensnormen, an Aufrichtigkeit und Bescheidenheit ausgerichtet, kamen gegen Ende des 17.Jahrhunderts auf und entfalteten auch im privaten Bereich ihre Wirksamkeit. Doch sie wurden nicht dressurartig einstudiert, sondern nach persönlicher Interessenlage angeeignet — was nicht ausschloß, daß ein verlassener Ehemann vor Gericht rührselig die moralische Dimension ehelicher Treue pries, wo ihn vor allem seine verletzte Eitelkeit motivierte, eine obrigkeitliche Abstrafung der Frau zu erwirken. Die Verfeinerung der Tischsitten und der gesellschaftlichen Manieren waren zwar allgemein geläufige Prozesse, aber man berief sich vorzugsweise dann auf sie, wenn der Tischnachbar besonders eklig war und verspottete ansonsten wohlerzogene und raffinierte Menschen gerne als taschentuchwedelnde Äffchen.

Das private Leben der Mehrzahl der Menschen mußte allerdings viele Jahrhunderte lang täglich improvisiert werden und nahm dabei Formen von heute erstaunlicher Vielfalt an. Auch darum ist es ein gewagter Versuch der AutorInnen, sich in die Alkoven und Boudoirs zu begeben. Es fällt ihnen vermutlich auch darum schwer, den überzeugend formulierten Leitlinien Ariès' zu widerstehen. Doch solche Orientierungslinien erweisen sich letztlich als zu allgemein, um wirklich nachvollziehen zu können, wie sich im einzelnen ein individuelles Verständnis von Privatheit manifestierte, welche ungeschriebenen und dennoch allen vertrauten Regeln wirksam wurden, wenn es etwa darum ging, zu entscheiden, wer sich wann aus der Vorratskammer bedienen durfte.

Wenn mit dem Einblick in die Räume des Privaten nicht zugleich auch vermittelt wird, welche immanente Logik die Handlungen, Gewohnheiten und Impulse leitete, sondern wenn weiterhin lediglich eine neue Periodisierung, sei sie noch so subtil, das Verständnis auch dieser Handlungen bestimmt, dann ist nichts gewonnen: Das 18.Jahrhundert wird uns weiterhin erscheinen, wie Fellini es im Vorfeld der Arbeiten zu „Casanova“ beschrieb, als „elektrifiziertes Wachsfigurenmuseum“, in dem Gesten zum Schema verkommen sind, wo wir statt der Bedeutung nurmehr die Bewegung wahrnehmen.

Philippe Ariès und Georges Duby Hg.: „Geschichte des privaten Lebens. 3. Band: Von der Renaissance zur Aufklärung.“ Herausgegeben von Philippe Ariès und Roger Chartier. Deutsch von Holger Fliessbach und Gabriele Krüger-Wirrer. Fischer 1992, 632 Seiten mit ca. 500 Abb., 88DM.