: Flucht und Altersversorgung
Zeitgenössische Autoren beim Theaterfestival in Avignon ■ Von Jürgen Berger
Jean-Philippe Domecq ist eigentlich Chefredakteur der Literaturzeitschrift Quai Voltaire, nebenbei hat er bislang neun Stücke verfaßt. Sein jüngstes heißt „Komödie zwischen den Mauern“ und steht für eine moderne Autorenkrankheit: das tatsächliche oder eingebildete Leiden an der Zeit. Domecqs eingebildeter Kranker heißt Gabriel und bespricht ein Tonband, das er schnell versteckt, sobald Ehefrau, Tochter oder ein Familienfreund auftauchen. Die drei Nebenfiguren kommen erst gegen Ende des Stückes zu Wort, leider nur in einer der inzwischen epidemisch auftretenden Theaterpersiflagen auf TV-Ratespiele. Im Innenhof einer kleinen Kapelle im Zentrum Avignons wird daraus die Realsatire eines schlechten Stückes in einer bemühten Inszenierung von Pierre Béziers, der seit 1983 in Aix- en-Provence mit seiner Truppe „Le Theatre du Maquis“ arbeitet.
Domecqs „Komödie zwischen den Mauern“ war eines von drei neuen Stücken, das in Avignon vorgestellt wurde. Wollte man sehen, wo in Frankreich derzeit Interessantes passiert, mußte man sich allerdings den sogenannten „Créations“ zuwenden. Das sind freie Bearbeitungen von Stoffen und Themen, wie beispielsweise der gelungene Versuch von Francois Mathouret, den Roman „Das Buch der Fluchten“ von J.M.G. Le Clézio für die Bühne zu bearbeiten und zu realisieren.
Jean-Marie Gustav Le Clézio, 1940 in Nizza geboren, hat rund 25 Romane geschrieben. Der verstörte Held seines Romans heißt Hogan, den der Regisseur Francois Mathouret selber spielt. Hogan flieht vor vielem, vor allem vor dem Schreiben, also läßt man ihm Bücher- und Schreibpult mitten in die Wüste bauen. In der sandigen Einöde kommt es anders als am Schreibtisch zu Begegnungen, die der Protagonist so geschickt mit kleinen Veränderungen in Körperhaltung und Tonfall ausspielt, daß sich sowohl Le Clézios an Beckett erinnernder Tonfall als auch die dramatische Qualität seiner Dialoge herausschält.
„Das Buch der Fluchten“ ist eine Produktion des Pariser Odéon-ThéÛtre de l'Europe. Dessen künstlerischer Leiter Lluis Pasqual konnte zwar mit seinem „Chevalier d'Olmedo“ (wir berichteten) nicht überzeugen, doch die unter seiner Ägide zustande gekommene Koproduktion eines Stückes von Georges Lavaudant kann sich sehen lassen. Lavaudant nähert sich als Autor und Regisseur dem Festivalthema „Spanien und das goldene Zeitalter“, sucht allerdings nicht das Land der Theaterdichter, sondern die Spuren, die die Conquistadoren in Mexiko hinterließen. „Terra Incognita“ führt in prägnanten und witzigen Dialogen die gelangweilte europäische Society mit ihren Krankheiten vor, während aus einem Kellerloch immer wieder Don Pedro kriecht (die rechte Hand des Eroberers Cortez) und von vergangenen Zeiten berichten will. Lavaudant mischt Tanz mit Dialog, nüchterne Paargespräche mit mystischen Bildern, und am Ende läuft einer der Europakranken zu den Indianern über.
Mag sein, daß Lavaudant Heil in der religiösen Eskapade sucht und sein Stück deshalb mit indianischen und christlichen Ritualen auflädt. Es gehört trotzdem zu den wichtigen Festivalbeiträgen in Avignon, wo weiter über die Neuordnung der Sozialversicherung freier Künstler diskutiert wird. Es ist das Festivalthema, denn sollte tatsächlich an der Arbeitslosenregelung für französische Schauspieler und Techniker gerüttelt werden, geht es vielen an die nackte Existenz. Frankreichs Theaterleute werden häufig nur für einzelne Produktionen verpflichtet und erhalten in Zeiten der Nichtbeschäftigung eine staatliche Unterstützung. Frankreichs Arbeitsministerin Martine Aubry hat jedoch das jetzige System für ungerecht erklärt, das zur Aufblähung der Theater geführt habe. Kulturminister Jack Lang, der sich in den prosperierenden Jahren für die Theaterkünstler stark gemacht hatte, hielt sich lange zurück, bis er sich nun doch mit den Bühnen solidarisch erklärt hat. Von Jean- Pierre Vincent, dem Chef des renommierten „ThéÛtre des Amandiers-Nanterre“, läßt er sich einen Bericht zur Lage der Bühnen erstellen — während die in Avignon vertretenen Theater längst mit Zahlen argumentieren.
Will man etwa Jean-Louis Martinellis Bearbeitung von Pier Paolo Pasolinis „Calderon“ sehen, geht man an einem großen Plakat vorbei. Zwei Drittel der an der Inszenierung Beteiligten, so ist zu lesen, sind freie Künstler und Techniker. Jean-Louis Martinelli verfährt mit Pasolinis Bearbeitung von Calderons „Das Leben ein Traum“ seinerseits sehr frei. Er rückt Velasquez ins Zentrum der Inszenierung, dessen Bilder ähnlich wie Calderons Stücke für den Übergang vom goldenen ins gotische spanische Zeitalter stehen.
Pasolini siedelte sein Stück im faschistischen Spanien Francos an, Martinelli datiert die behandelte Episode dagegen auf das Jahr 1967. Aus Calderons König Basilio ist der Ehemann Rosauras geworden, ein Mann mit antifaschistischer Vergangenheit, der sich in einer kleinbürgerlichen Idylle einrichtet. Im Zentrum des Stückes jedoch stehen Rosaura und ihre Schwester, Spiegelbilder einer Person aus einem der berühmtesten Velasquez-Bilder. Das Bild, das Pasolini in seinem „Calderon“ mehrmals erwähnt und auf dem die spanische Königsfamilie sowie der Maler selbst zu sehen sind (Velasquez malt gerade die Königsfamilie), fungiert bei Martinelli als Bühnenbild und als Rahmen, aus dem die Figuren auch wieder heraustreten können. Ein komischer Höhepunkt ist erreicht, wenn die Schwestern in Reifröcken dastehen und sich einen ironischen Kommentar zum Bild anhören, dessen Teil sie gerade sind. Geschrieben hat ihn Gérard Wajcman; daß Martinellis „Bühnenessay“ nicht zu statuarisch wirkt, ist Martine Schambacher und Christine Gagnieux, den zwei hervorragenden Schauspielerinnen, zu verdanken.
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