piwik no script img

Ein Yuppie-Sender dudelt unter Piratenflagge

Vom Sohn eines Herstellers für kußechte Lippenstifte zu Frankreichs erfolgreichstem Radiomacher: Jean-Paul Baudecroux  ■ Von Ulrich Patzwahl

Hinter Berlins „Radio Energy“ verbirgt sich das französische Network „Radio NRJ“. Hinter „Radio NRJ“ verbirgt sich ein Mann: Jean-Paul Baudecroux.

Die Geschichte des erfolgreichsten französischen Radiomachers begann in den fünfziger Jahren mit einem Lippenstift, „Rouge Baiser“. Dessen besonderer Vorzug — er war kußecht — verschaffte ihm einigen Vorsprung vor den damals ausnahmslos abfärbenden Produkten der Konkurrenz und bescherte der herstellenden Pariser Familie Baudecroux 250 Angestellte sowie ein Wochenendhaus in den französischen Alpen.

Sohn Jean-Paul wollte aber schon früh mehr als nur Make-up und klopfte nach der Schule an den unterschiedlichsten Karrieretüren; als freier Mitarbeiter beim französischen Mittelwellensender Europe1, als Manager in den USA und als Student an der Uni. Aber aus keinem Einstieg wollte ein richtiger Aufstieg werden.

Ende der siebziger Jahre leitete Baudecroux „ELY“, einen Restaurant-Reservationsservice auf den Champs-Elysées. Hier packte ihn die euphorische Stimmung zur Zeit des Regierungswechsels im Mai 1981. Francois Mitterrand wurde zum Staatspräsidenten gewählt. Baudecroux hörte viel Radio und stellte fest, daß der Empfang der zahlreichen UKW-Piraten nicht mehr staatlich gestört wurde. Er kaufte sich eine Antenne, zwei Plattenspieler nebst Mischpult und mietete ein Hausmädchenzimmer über den Dächern von Paris.

Der erste On-Air-Anlauf hieß „Femmes-FM“ und verstand sich — Hommage an die zwei wichtigsten Geldgeberinnen Mutter und Schwester — als Freund-und-Helfer-Radio in Schönheits- und Kosmetikfragen. Baudecroux vertraute dem außergewöhnlichen Konzept nur wenige Wochen und wechselte dann den Kurs. „Radio NRJ“ (Nouvelle Radio Jeunesse, sprich: „énergie“) wandte sich mit mehr Musik auch an ungeschminkte HörerInnen. Sendestart war am 19.Juli 1981. Der Anlauf glückte, und daraufhin erhielt NRJ eine hehre, auch für Radioidealisten charakterlich einwandfreie Satzung: Werbung war ausdrücklich ausgeschlossen, zwei weitere anlehnungsbedürftige Sender — darunter der Klassiker aus Piraten-zeiten, „Radio Verte“ — waren für die gemeinsame Frequenz nominiert. Als kleines Extra stand die Sozialistische Partei auf der Sponsorenliste einer soeben ins Leben gerufenen „Nachrichtenredaktion“.

Hier dürfen nur die Männer ans Mikro ran

Einige DJs aus Pariser Nachtclubs moderierten und brachten freundlicherweise auch ihre eigenen Platten mit. Ansonsten stand das Studio unter der Fuchtel eines gewissen Jean- Pierre D'Amico, der nicht nur den Sendeablauf, sondern auch die Antenne auf dem Mansardendach justierte — und dabei der zulässigen Sendestärke schon mal die ein oder andere Überdosis verpaßte. An einer derartigen Verbesserung des „Hörkomforts“ war auch Baudecroux interessiert, nicht aber an einer eigenständigen redaktionellen Instanz. D'Amico wurde aussortiert, Max Guazzini, Rechtsanwalt mit linkem Parteibuch, als neue Drehscheibe zwischen Chef und Redaktion eingebaut.

Jetzt drehte NRJ auf. Keine Moderation mehr länger als 41 Sekunden, statt mitgebrachter Platten gab es Playlist-Programme, Radio Vérte wurde von der gemeinsamen Frequenz geschubst. Schließlich brachte Baudecroux sogar seine Skrupel gegenüber kommerziellen Werbezeiten unter Kontrolle — die wurden nämlich 1984 vom Staat zugelassen.

Seither hat sich Radio NRJ vergrößert. Verändert hat es sich — von der Adresse einmal abgesehen — nicht mehr. Im 16. Pariser Arrondissement, im Rundfunk- und Fernsehviertel, hat Baudecroux Stellung bezogen und befehligt von hier aus ein Imperium. 170 NRJ-Lokalstationen in ganz Frankreich beziehen über Satellit ein strikt formatiertes Musikprogramm für HörerInnen unter 25. Wer dem NRJ-Alter entwachsen ist, kann sich in mittlerweile 70 Städten die Fortsetzung anhören, Baudecrouxs Schlager- und Oldiesender „Chérie-FM“ — Formatradio für Erwachsene. Zumindest die „Nachrichtenredaktion“ dürfte Hörer und Hörerinnen dabei aus NRJ-Zeiten bekannt vorkommen. Sie ist ein Mann (bei NRJ dürfen nur Männer vor das Mikro), der zwischen den Studios der beiden Sender hin- und hergeschickt wird und jeweils etwa drei Minuten lang AFP-Meldungen verliest.

„Rires & Chansons“, Baudecroux' dritter Sender, ist erst zwei Jahre alt und bis jetzt nur in Paris zu hören. Die Idee zum „Lachen- und Liederprogramm“ — ein gespielter Hörfunkwitz nach dem anderen — entsprang des Meisters Menschenkenntnis: „Die Franzosen“, so Baudecroux' Beobachtung, „lachen gerne.“

Trotz des großen Erfolgs, trotz der Expansion auch von NRJ-Fanzines, -Kleidung, -Videos usw. ist der Chef noch immer um den Pioniergeist der frühen Jahre bemüht. Noch immer wird NRJ vom Staat, nach Baudecroux' Einschätzung, „in der Frequenzverteilung diskriminiert“, noch immer, so NRJ-Generalsekretärin Nathalie Briant, „können die Behörden uns nach Belieben rösten“.

Da weht sie, die Piratenflagge, und bei der staatlichen Behörde, beim Conseil Supérieur de l'Audiovisuel (C.S.A.) fragt man sich womöglich, was man denn falsch gemacht hat.

RTL heißt das Feindbild der neunziger Jahre

Vielleicht nicht leise genug genörgelt, als Chérie-FM — zweites und also verbotenes Network in der Hand eines Betreibers — die französische Provinz eroberte? Vielleicht hie und da eine Frequenz zu NRJs Ungunsten, oder schlimmer, zu RTLs Gunsten verteilt? Denn das französische RTL-Hörfunkprogramm ist mit rund 20 Prozent der nationalen Einschaltquoten immer noch Marktführer, vor den traditionellen Konkurrenten Europe1 und France Inter (je zwölf Prozent) und vor NRJ (zehn Prozent). „Wenn in Frankreich ein altes Röhrenradio explodiert, dann hat RTL einen Hörer weniger!“ — Mit Schmackes zeigt der NRJ-Präsident seinem Gefolge, gegen welches Feindbild es in den neunziger Jahren gehen könnte, gegen das größtmögliche nämlich, gegen RTL.

Wer soviel vor hat, muß weiter expandieren. Baudecroux hat im Dezember 1989 die NRJ-Aktie auf dem 2. Pariser Börsenmarkt eingeführt. Für das verflüssigte Kapitalzehntel (acht Zehntel verblieben im Privatportemonnaie) lachte Bargeld in Höhe von rund 800 Millionen Francs. Sicher, seitdem fällt die Aktie, aber die Stimmung steigt. Mit soviel Liquidem konnten endlich UK- Wellen bis ins germanophone Ausland geschlagen werden, bis nach Berlin. Zwar war RTL da auch schon, aber immerhin, ein paar tausend Berliner SchülerInnen können sich jetzt schon über den Energy-Jingle mit sechs Millionen französischen Altersgenossen verständigen: Energy — huhu — Radio Number One, NRJ — huhu — Radio Number One.

Antiquitätensammler Jean-Paul Baudecroux ist über seinen Aufstieg, seinen Reichtum und seine Gesetzeskonflikte eine Art französischer Yuppie geworden, bei gleichbleibender, undurchdringlicher Nonchalance und unverändertem Äußeren: Jeans, blaues Hemd, energisches Kinn und diese schmalen Lippen, mit denen er beim besten Willen kein Lippenstiftfabrikant werden konnte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen